12.04.2013 — Er, Jan Lisiecki, war ein Wunderkind, das mit neun Jahren erstmals mit Orchester aufgetreten ist, und als 15-jähriger 2010 an Chopins Geburtsort Zelazowa Wola die Feierlichkeiten zu dessen 200. Geburtstag eröffnete (ist ja noch gar nicht so lange her). Die Deutsche Grammophon hat den Kanadier mit polnischer Abstammung unter die Fittiche genommen, und für diese hat er nun gleich Mal die beiden Etüden-Zyklen op. 10 und op. 25 von Chopin eingespielt, nachdem er beim Label mit dem gelben Balken zunächst mit Mozart-Klavierkonzerte debütierte. Aufgenommen worden ist der Zyklus im Januar dieses Jahres in der Koerner Hall der Glenn Gould School in Toronto.
Nun ist Lisiecki ja beileibe nicht der Erste, der das chopinsche Kompendium der leichtfüssigen Fingerverrenkungen auf Tonträger verewigt. So fragt man sich, ob der Hinweis auf dem Back-Cover, dass er jede einzelne der Übungen in einem einzigen Take aufgenommen hat, einfach der Versuch ist, seiner Version einen speziellen Stempel aufzudrücken, oder gar – aber das wäre zu billig (und wird durch den Höreindruck auch nicht bestätigt) – etwaige Unsauberkeiten zu entschuldigen.
Der mittlerweile 18-jährige hat technisch etwas drauf, mühelos perlen die Läufe in linker und rechter Hand. Er betrachtet den Schwierigkeitsgrad der Etüden denn auch locker als «zweitrangig», es gehe in den Stücken «einfach um Schönheit». Tatsächlich betont er – eher untypisch für einen jungen Hypervirtuosen, der sich in die oberste Liga hinaufarbeiten will – nicht die mechanische Sonderbegabung. Vielmehr lässt er mit transparentem, souveränem Anschlag die Texturen und Klangflächen für sich sprechen, gerade auch in einem heroischen Werk wie der Revolutions-Etüde. Zum Erzähler mit Hang zum prosodischen Ausdeuten des Notentextes wird er höchstens mal in einer Etüde wie der Nummer 7 aus dem op. 25.
Die Sammlung sei wie ein Buch, lässt sich Lisiecki im Booklet auch zitieren, jedes Stück sei ein Kapitel und erzähle seine eigene Geschichte und es gebe einen übergreifenden erzählerischen Zusammenhang. Diese narrative Eigenart der Zyklen erschliesst sich in Lisieckis Annäherungen allerdings noch nicht wirklich. Eher glaubt man, das Ohr an ein faszinierendes, feinziseliertes Kaleidoskop der pianistischen Klangfarben und Muster zu halten. (wb)
Jan Lisiecki: Chopin Études, Deutsche Grammophon/Universal, Best.-Nr. 479 1039