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Schiff und das Wohltemperierte Klavier

12.10.2012 — Das «Alte Testament der Klavierspieler» (der Dirigent Hans von Bülow), Bachs «Wohltemperiertes Klavier» hat seit Glenn Goulds Jahrhunderteinspielung nichts von seiner Faszination verloren. Es stellt noch immer eine Art spiritueller Meisterprüfung heutiger Virtuosen dar, die mehr suchen als den Applaus für Tastendonner und andere Fingerakrobatik. In die Jahre gekommen hat sich damit vor kurzem auch Maurizio Pollini für die Deutsche Grammophon ein diskografisches Denkmal gesetzt (siehe Codex-flores-Rezension), etwa zur gleichen Zeit, in der Andras Schiff den Zyklus in der Zürcher Tonhalle live vorgetragen hat.

Ein weiterer mit Zürich verbundener Pianist hat das erste Buch – wie Schiff nun beide – für das Münchner Edellabel ECM in Polycarbonat gebrannt: Till Fellner, der ab 2013 in der Limmatstadt an der Hochschule der Künste unterrichten wird.

Für ECM, dem der Hang zum Ikonografischen eigen ist, hat in den 1980er-Jahren der sonst als Jazz-Pianist bekannte Keith Jarrett beide Bücher eingespielt. Nun also ein vollständiger Zyklus von Andras Schiff, der eine eigene Fangemeinde hat. Die Aufnahme hat wie viele ECM-Produktionen akustisch eine rituell-sakrale Aura. Es ist aber auch eine gewisse Schärfe unüberhörbar, die dem Klavier einen Cembaloklang verleiht.

Wie weit das Pianist und Tontechnik bewusst steuern, entzieht sich unserer Kenntnis. Schiff spielt aber nicht zuletzt in den Bässen so knapp und definiert, dass man die Vermutung hegen darf, er habe Freude am gezielten Verwirrspiel mit akustischen Tromp-l’oeils. Dadurch erhält sein «Wohltemperiertes Klavier» etwas Transparent-Filigranes.

Mit der Neueinspielung umfasst Schiff einen Lebenszyklus an Auseinandersetzungen mit Bachs Klavierwerk mit erneut implizit zur Diskussion gestellten Frage nach dem richtigen Instrument und Klang für die Tasten-Zyklen des Thomaskantors. In einer Zeit, in der nur die Rückbesinnung auf historisches Instrumentarium politisch korrekt war, spielte er in den 1980er-Jahren die Bach-Konzerte auf dem modernen Flügel ein.

Schiffs Bach-Projekt ist fast wie Gaudis Kathedrale in Barcelona eine ewige Baustelle. In den kommenden Saisons wird er mehrere der grossen Zyklen – Partitas, Suiten und Variationen – auf Tourneen in den USA zu Gehör bringen. (wb)

Andras Schiff: Bachs Wohltemperiertes Klavier, Buch I und II, ECM New Series 2270-73.

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