28.09.2012 — Wenn Maurizio Pollini Chopins 24 Préludes op.28 neu einspielt, dann weckt das zwangsläufig hohes Interesse. Pollini gilt als einer der ganz, ganz grossen Chopin-Interpreten – als solcher hat er die Weltbühne der europäischen Kunstmusik (nach dem Gewinn des Warschauer Chopin-Wettbewerbs) erst richtig betreten. Der italienische Grand Seigneur des Klaviers ist aber auch ein unermüdlich der Neuen Musik nachspürender Interpret. Chopins zerklüfteter Steinbruch an Form- und Ausdrucksexperimenten wirkt auch heute noch zum Teil so kühn und kompromisslos, dass ihn bislang noch kein Moos und Gestrüpp verwelkenden Zeitgeistes zu überwuchern vermochte. Da muss einer schon wissen, wie man mit Modernität umgeht.
Den Zyklus op. 28 hat Pollini bereits 1985 einmal eingespielt und schon damals in seinem charakteristischen Stil, der analytische Präzision, hohe Schärfentiefe, Virtuosität, Kraft und herbe Noblesse vereint. Auch die erneute Einspielung – realisiert im Mai und Juni 2011 im mittlerweile als Aufnahmeort legendären Münchner Herkulessaal – präsentiert den kühnen Klangkosmos eher als kräftiges Ölgemälde, denn als Aquarell, als das man ihn, zeitgenössischen Zeugnissen über Chopins Klavierspiel folgend, auch lesen könnte.
Die Modernität, die Chopins op. 28 heute noch charakterisiert, mag neben den Kühnheiten in Textur und Harmonik dem Aufbrechen der Fragmentierung der Form geschuldet sein. Das mutet wie eine Dekonstruktion oder Verfremdung der Gattung an, es trägt also die Züge typisch jetztzeitiger Kompositionsstrategien. Bei seinen Zeitgenossen hingegen, darunter Schumann und Liszt (ausgerechnet!), hat gerade dies Ratlosigkeit oder Ablehnung provoziert.
Um was ging es Chopin zu seiner Zeit aber wirklich mit dem sperrigen Zyklus? Möglich, dass der polnisch-französische Tonschöpfer, der die Präludien in einem lexikalischen Tonartenschema anordnete, die Form von Bachs Wohltemperiertem Klavier mit dem vorwärtsstürmenden Geist künftiger Gründerzeit füllen wollte. Möglich, dass er für sich selber ein Kompendium zukunftsweisender Tonsatzmöglichkeiten anlegen wollte – in einem Moment seines Lebens, in dem er um öffentliche Anerkennung nicht mehr zu buhlen brauchte. Aber das alles sind natürlich Spekulationen.
Pollini kombiniert die Préludes mit Werken, die ebenfalls den experimentierenden Geist und die ästhetischen Aufbrüche des Komponisten dokumentieren, die beiden Nocturnes op. 27, die vier Mazurken op. 30 und das Scherzo Nr. 2 in b-Moll op. 31.
Ein vielsagende Irritation löst der (sehr informative) Text des italienischen Musikwissenschaftlers Paolo Petazzis zu den Chopin-Werken im Booklet der CD aus. Er ist übertitelt mit «Maurizio Pollini und Chopin». Von Pollini ist allerdings überhaupt nicht die Rede, nicht einmal in einem Nebensatz. Wo also weht er hier, der Geist des interpretierenden Vermittlers? Die auffallende Abwesenheit weckt denn auch die Grundsatzfage: Wieviel Pollini steckt in diesen Chopin-Auslegungen nun wirklich?
Gute Frage. (wb)
Maurizio Pollini: Chopin 24 Péludes Nocturnes Mazurkas Scherzo. Deutsche Grammophon/Universal, Best.-Nr. 477 9530.