27.04.2012 — «Mendelssohn hatte wahrscheinlich zusammen mit Mozart und Debussy das musikalisch schärfste Ohr, das es je gegeben hat.» Das sagt Heinz Holliger, der nun ja auch nicht gerade mit grobem Hörsinn ausgestattet ist. Und er redet Klartext, wenn’s darum geht, festzustellen, weshalb Mendelssohn selbst heute noch eher als eineinhalbklassiger Komponist gilt. Richard Wagner habe alles musikalisch Brauchbare von ihm geklaut, um ihn anschliessend völlig zu verneinen und ihn als Komponistenfigur auch menschlich zu zerstören, so Holliger.
Das Gespräch mit dem brillanten Oboisten, Komponisten und Dirigenten im Booklet zu dieser CD ist etwas vom Besten und Anregendsten, was man in Booklets bisher gelesen hat – nicht nur zu Mendelssohn. Holliger spricht auch über die Tempi, die Mendelssohns Musik verlangt: Nicht schleppen! Und darüber, wie man sie runieren kann, drückt man auf die Tränendüsen. Diese Musik vertrage «weder Gefühlsduselei noch Bombast».
Holliger betrachtet die «Schottische», die Sinfonie Nr. 3, als «wohl perfektestes Orchesterstück» Mendelssohns. Tatsächlich gelingt es ihm, zusammen mit dem Musikkollegium Winterthur, das ihm wendig und willig folgt und auf höchstem Niveau bestes und inspiriertes Handwerk zeigt, das Werk in seidig-vibrierender Musikantik zum Leben zu erwecken.
Mendelssohns Hang zum Narrativen kommt da ebenso zum Vorschein wie auch seine kontrapunktische Virtuosität, und gegen Ende glaubt man gar Vorahnungen auf Mahlers Sinfonien zu spüren – in einer hintergründigen Volkstümlichkeit und Leichtigkeit, für die Holliger sicherlich ein besonderes Ohr hat.
Das «nicht schleppen!», das ja auch eine Lieblingsanweisung Mahlers war, nimmt sich Holliger in der «Italienischen», der Sinfonie Nr. 4, besonders zu Herzen. Da wirkt der Einstieg denn fast fiebrig und ungeduldig vorwärtsdrängend. Der etwas gröbere Pinsel, den Mendelssohn hier im Gegensatz zur «Schottischen» verwendet, endet bei Holliger im letzten Satz in selbstdeklarierter «Wildheit und Härte», bei eher geglättetem dynamischem Umfang.
Holliger wäre nicht Holliger, machte er sich nicht auch Gedanken zur Editionsgeschichte des Werkes. So wählt er hier für die Einspielung die Zweitfassung, die erst 2001 vom Musikwissenschaftler John Michael Cooper verfügbar gemacht worden ist und in den Sätzen zwei bis vier zum Teil erheblich von der üblichen Erstfassung abweicht.
Die zweite ist in gewisser Hinsicht allerdings auch Fanal des Scheiterns. Mendelssohn selber hatte die Revision verworfen, nachdem es ihm nicht gelang, zu den revidierten Sätzen einen für ihn stimmigen ersten zu verfassen. Mendelssohns historische Skrupel sollten nicht unsere heutigen sein. (wb)
Felix Mendelssohn Bartholdy: Symphonies, No. 3 «The Scottish», No. 4 «The Italian» (Second Version), Musikkollegium Winterthur, Heinz Holliger. Dabringhaus und Grimm, MDG 901 1663-6.