02.03.2012 — «Wenn ich könnte, würde ich vielleicht auch Rockmusik spielen», sagt die legendäre Geigenpädagogin Ida Haendel, mit Blick auf den eher ungewöhnlichen Weg, den ihr Meisterschüler David Garrett in den letzten Jahren gegangen ist. Ida Haendel ist (vermutlich) 83, und sie sagt das so entspannt – nachdem sie beteuert hat, sie finde es völlig in Ordnung, wenn Garrett tue, was er wolle – dass man ihr das sogar glaubt. Nur vorstellen kann man es sich nicht so recht.
Tatsächlich ist Garretts Zweitkarriere als fiedelnder Rockmusiker und Crossover-Geiger kein Kunstprodukt kreativer Marketingleute. Er hat sie gegen erhebliche Widerstände selber durchgesetzt (ein Deutsche-Grammophon-Manager habe ihn ausgelacht, erzählt er in dem Film, aus dem auch Haendels Zitat stammt, und ihm versichert, er werde keine fünf CD von einem solchen Projekt verkaufen). Es ist nicht überraschend, dass er im London des Open Spirit schliesslich Unterstützung gefunden hat.
Garretts Hinwendung zu Rock- und Stadionprojekten ist wie die derben Selbstdarstellungen und Jazzeskapaden Nigel Kennedys absolut authentisch. Sex, Stradivari and Rock’n’Roll lautet bei beiden die ganz natürliche Devise. Garrett ist aber auch der Prototyp des Wunderkindes, aus überehrgeizigem Haus – der Vater ein hochgeachteter Instrumenten-Auktionator, die Mutter Ballettänzerin –, in dem Intellekt und Disziplin herrschten. Schon als hart gefordertes Kind ist er ein ausgereifter Musiker, der den letzten Schliff bei Grössen wie Isaac Stern, Itzhak Perlman und eben Ida Haendel erhält, und auch das Komponieren erlernt.
Für das Projekt «Legacy» hat er sich der Musik Fritz Kreislers zugewandt und einige seiner Kleinode orchestriert, Evergreens wie «Liebesleid», «Liebesfreud» oder «Caprice Viennois», Bearbeitungen Kreislers selber ins Programm genommen, und sich darüber hinaus an Beethovens Violinkonzert gemacht (natürlich mit Kreisler-Kadenz). Im Festspielhaus Baden-Baden hat er das Projekt zusammen mit der 2003 auf Veranlassung Putins gegründeten National Philharmonic of Russia auf die Bühne gebracht.
Dass da zwei Dirigenten am Werk sind, ist eine Geschichte für sich: Vladimir Spivakov, der Chef des Ensembles, musste mitten im Konzert wegen einer akuten Bronchitis forfait geben. Lorenzo Coladonato, der auch als «Maestro Suggeritore» am Opernhaus Zürich tätig ist, sass im Publikum und sprang fliegend ein.
Das Orchester ist ausgezeichnet, hat allerdings den typisch schweren Klang russischer Ensembles, in dem die charmanten Kreisler-Stücke etwas viel Fett ansetzen und das Beethoven-Konzert einen eher rhapsodischen Charakter erhält. Da wird aber auf so hohem Niveau und mit so viel Lust, und vom Solisten mit derart selbstverständlicher Virtuosität musiziert, dass man richtig hineingezogen wird in die Musik.
Die Aufnahme des Baden-Badener Konzertes vom 6. Mai 2011 kombiniert Decca auf der vorliegenden DVD mit dem ausgezeichneten Dok-Film «Playing for my Life» von George Scott zum Werdegang Garretts, aus dem das Eingangszitat Haendels stammt. Scott, der neben zahlreichen andern auch schon Elton John und Carla Bruni filmisch porträtierte, hat ein anrührendes Dokument geschaffen, das weit mehr ist als bloss ein Promo-Picture. (wb)
David Garrett: Legacy, Live in Baden-Baden. Dokumentrafilm: «Playing for my life». National Philharmonic of Russia, Vladimir Spvakov, Lorenzo Coladonato. Werk evon Beethoven (Violinkonzert) und Fritz Kreisler. DVD, Decca/Universal, Best.-Nr. 00440 076 281-64