03.02.2012 — Es gibt musikalische Sammlungen, die zweifelsohne zum Weltkulturerbe gehören. Das Repertoire der japanischen Shakuhachi ist so einer, oder das System der indischen Ragas. Auch das Great American Songbook und Kompositionen Ellingtons, Strayhorns und Monk kann man dazu zählen (und vieles mehr aus Jazz und Weltmusik). Die europäische Kunstmusik kondensiert in Zyklen, die in Spätbarock und Klassik entstanden sind. In der Sololiteratur stehen Bachs Wohltemperiertem Klavier (das «Alte Testament der Musik», wie der Dirigent Hans von Bülow meinte), Beethovens Klaviersonaten («das Neue Testament der Musik») gegenüber.
In der Kammermusik kristallisiert sich das Wesen der abendländischen Musikästhetik in der Gattung des Streichquartetts. Beethoven hat mit seinen 16 Werken dabei für die Besetzung das Drama der Transzendenz der klassischen Form verfasst, dem Schritt vom klassischen Mass in die individualistische Radikalität. Seine letzten Streichquartette zu verstehen, galt für den bürgerlichen Musikkenner denn auch lange als eine Art letzter und einsamer Ritterschlag zum kompetenten Hörer.
Um kreative Prozesse und das Ringen um Ausdruck, Form und Vollendung geht es. Allerdings geht Beethoven gerade den umgekehrten Weg Bachs. Setzt der Thomaskantor mit seinen Spätwerken als eine Art Summe der Erfahrung einen vollendeten Schlusspunkt unter sein Wirken, legt der Bonner Tonschöpfer zunächst Meisterwerke der klassischen Sonatenform vor, bevor er sich mit zunehmendem Alter immer mehr als Dekonstrukteur und Fragender in offenen Formen äussert – und damit nicht nur sein zeitgenössisches Publikum vor den Kopf stösst. Selbst heute noch muten die Kühnheiten der letzten Quartette ungebändigt, herausfordernd, ja modern an.
Die Quartett-Monumente Beethovens gaben den Anstoss zur Gründung des deutschen Artemis Quartetts. 1989 fanden sich seine Mitglieder im Rahmen eines ambitionierten Meisterkurses der Lübecker Musikhochschule zusammen, in dem Walter Levin, der Primarius des legendären LaSalle Quartetts, mit 16 studentischen Ensembles je eines der Beethoven-Quartette einstudierte.
Die Artemisianer wurden dabei gleich mit einem der späten Werke konfrontiert, dem op. 131, einem in der ungewöhnlichen Quartett-Tonart cis-Moll stehenden Steinbruch von Ideen aus sieben Stücken jenseits der Sonatenform.
Seither hat sich das Artemis Quartett mehrmals intensiv mit dem Gesamtzyklus beschäftigt und ihn zwischen 2009 und 2011 weltweit integral zu Gehör gebracht. Die vorliegende Box vereint Aufnahmen der Werke, die zwischen 1998 und 2011 entstanden sind. Sie zeigen eine Kammermusikformation auf der Höhe ihres Könnens. Das Ensemble gilt als eines der besten seiner Generation und setzt zweifelsohne eine Marke, an der andere Interpretationen gemessen werden können.
Beethoven. Complete String Quartets. Artemis Quartet: Natalia Prishepenko (Violine I), Gregor Sigl (Violine II), Friedemann Weigle (Viola), Eckart Runge (Cello), Virgin Classics/EMI, 7-CD-Box.