20.01.2012 — Philip Marlowe, der Krimiheld des amerikanischen Autors Raymond Chandler – im Film 1946 von Humphrey Bogart unnachahmlich dargestellt – bezeichnete Rauch einer Filterzigarette gerne als «in Watte getauchter Novembernebel». Der zynische Gutmensch vom Dienst hatte aber durchaus auch einen eigenen musikalischen Geschmack. Ausgerechnet das Violinkonzert des russischen Staatskünstlers Aram Chatschaturjan hört er sich in Zeiten der Kommunistenhetze in den USA an. Es töne, legt Chandler Marlowe in den Mund, wie ein «ausgeleierter Keilriemen». Der Mann hat von Sowjetmusik mehr verstanden als mancher hochgebildeter Kulturwissenschaftler.
Zu einer Ikone der russischen Propagandamaschinerie geworden ist Chatschaturjans Ballett «Gayaneh» mit dem berühmten Säbeltanz. Chatschaturjan blieb, wie Schostakowitsch und Prokofiev, allerdings der Vorwurf des «Formalismus» nicht erspart. Soviel Willkür musste einfach sein im Sowjetregime.
Praktisch zur gleichen Zeit wie hinter dem Eisernen Vorhang Chatschaturjan schrieb in den USA Samuel Barber ein Geigenkonzert, in ähnlich volkstümlichem Ton gehalten wie dasjenige des Armeniers, wenn auch lieblicher und heller im Ton. Barber sah sich im Westen paradoxerweise dem umgekehrten Vorwurf ausgesetzt: Seine Werke seien zu wenig «formalistisch», zu abgedroschen-romantisch.
Solche Musik tönte in den Ohren der negativen Dialektiker um Adorno so «falsch» wie dies Adorno dem verminderten Septakkord als expressives Ausdrucksmittel attestierte. Das waren halt Zeiten, in denen es Komponisten, die im Avantgarde-Zirkus nicht mittanzten, machen konnten, wie sie wollten, falsch war’s allemal.
«Zwei Seelen» nennt Mikhail Simonyan sein Programm, in dem er die beiden Werke nebeneinanderstellt. Es liegt auf der Hand, oder vielmehr in den Genen, hat der Geiger doch als Sohn eines Armeniers und einer Russin in den USA studiert, bei Victor Danchenko, einem Schüler David Oistrachs, dem Chatschaturjan sein Konzert aufs Instrument geschrieben hat. Der Komponist war auch ein guter Freund von Kristjan Järvis Vater Neeme Järvi, und so schliesst sich der Kreis.
Etwas fällt sofort auf, hat man die «Originalaufnahme» von Chatschaturians Konzert mit David Oistrach im Ohr: Da schafft eine neue Kadenz Raum für virtuose und expressive Reflektionen, die dem kommunistischer Schreibweise verpflichteten plakativen Stil des Werkes mehr sakralen Tiefgang verleiht. Simonyan hat sie beim jungen armenischen Tonschöpfer Artur Vanesov in Auftrag gegeben. Ein gute Wahl.
Mikhail Simonyan: Two Souls, Aram Chatschaturjan: Violinkonzert; Samuel Barber: Violinkonzert op. 14; Adagio for Strings op.11. London Symphony Orchestra, Kristjan Järvi (Leitung), Deutsche Grammophon/Universal Bes.-Nr. 477 9827.