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25 Jahre für Bachs gesamtes Vokalwerk


09.12.2011 — Man kann als wohlhabender Bürger dümmere Hobbys haben. Konrad Hummler, geschäftsführender Teilhaber der Privatbank Wegelin & Co, mittlerweile überdies Präsident des Verwaltungsrates der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) und auch sonst eine Stütze der Gesellschaft, hat’s mit Bachs Vokalwerk. Dafür wird er rückblickend vielleicht mal 30 Millionen Franken aufgeworfen haben. Eine von ihm alimentierte Bachstiftung plant nämlich in einem Zeithorizont von einem Vierteljahrhundert nichts anderes als die «Aufführung sämtlicher Vokalwerke» des Thomaskantors, multimedial dokumentiert.

Kern des bachschen Vokalwerkes ist der opulente Korpus aus über 200 Kantaten, eine Gesamteinspielung damit so etwas wie das Besteigen des musikalischen Mount Everest. Die sportliche Herausforderung haben schon einige angenommen, meist mit einer bestimmten interpretatorischen Idee: Auf Gustav Leonhardt, Nikolaus Harnoncourt und Helmut Rilling folgten Masaaki Suzuki, Ton Koopman und John Eliot Gardiner.

Bachliebhaber sind also mit Hörweisen von Bachs klingendem Kirchenjahr mehr als bedient. Selbst im kirchlichen Alltag ist das Werk nach wie vor beinahe omnipräsent: Seit Ostern 2004 ertönen in der Basler Predigerkirche jeden Monat zwei Bachkantaten, in Mainz erklingen seit über fünfzig Jahren die Bach-Kantaten im sakralen Rahmen. Das ist erst der Anfang einer Liste.

Das heisst nicht, dass das Unternehmen einer Bachstiftung eidgenössisch-freisinniger Prägung musikalisch nichts hergeben würde. Immerhin zeichnet künstlerisch ein profunder Kenner des Stils verantwortlich: Rudolf Lutz ist Dozent für Improvisation an der Hochschule für Alte Musik Schola Cantorum Basilensis und für Generalbass an der Hochschule für Musik Basel. Er hat an der Hochschule Zürich Oratorienkunde unterrichtet und sich auch als namhafter Erforscher der Barockmusik einen Namen gemacht.

Lutz stellt aus jungen Berufssängerinnen und -sängern in variabler Besetzung auch Chor und Orchester der Aufführungen zusammen. Den Chor «bilden bis zu vierzig Stimmen, wobei einzelne Sängerinnen und Sänger auch immer wieder die Chance bekommen, solistische Aufgaben zu übernehmen».

Das in einem Kirchenraum im appenzellischen Trogen materialisierte Projekt dokumentiert aber dennoch nicht in erster Linie das historisch-musikalische Bach-Erbe. Vielmehr soll damit offenbar der Topf spirituell-bildungsbürgerlicher Werte einer einst staatstragenden liberalen Elite am Kochen gehalten werden.

So beschreibt die Webseite der Stiftung selber den Ablauf der monatlich stattfindenden Aufführungen: Sie beginnen mit einem Einführungsworkshop. Danach folgt das eigentliche Konzert. Pro Abend gelangt lediglich eine Kantate, dafür aber zweimal, zur Aufführung. Zwischen den beiden Aufführungen gibt’s eine Reflexion über den jeweiligen Kantatentext. Dabei betrachten Persönlichkeiten aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen den barocken Kantatentext aus heutiger und persönlicher Sicht. Die Stiftung ist davon überzeugt, dass man danach die Kantate «anders hört als zuvor».

Unter den Referenten prominent vertreten sind die Feuilletonisten der NZZ und ihr Umfeld, Chefdenker Martin Meyer, die Philosophin Ursula Pia Jauch, der Philosoph Georg Kohler, Aushängeschilder des politischen Liberalismus wie Suzette Sandoz oder der heutige Avenir-Suisse-Direktor Gerhard Schwarz sowie Wissenschaftler und Literaten vom Schlage des Biochemikers Gottfried Schatz oder des Geschichtenerzählers Urs Widmer. Für die Auswahl der Referenten zeichnet der frühere DRS2-Programmleiter Arthur Godel verantwortlich.

Damit ist das Bachprojekt so etwas wie die sakrale Version des Bündnisses aus bildungsbürgerlicher Presse und Festivalbetrieb beim Lucerne Festival, bei dem NZZ-Musikjournalisten und DRS2-Redaktoren ja auch nicht bloss kritische Distanz wahren, sondern mitgestalten, als Vortragende, Vermittler und Moderatoren. Bei aller Prominenz und Partizipation steht das Projekt aber in erster Line für das Mäzenatentum Hummlers.

Trotz seiner festen Stellung inmitten des freisinnigen Establishments nimmt man ihn vor allem als Mann der Ersatzhandlungen wahr: Statt Journalist ist er Verfasser von Anlagekommentaren und Verwaltungsrat einer Zeitung geworden, statt Geiger Mäzen eines Musikprojektes.

Aber der Mann zeigt Haltung. Er tut hemmungslos Gutes (oder was er dafür hält) und spricht – wie’s für Mäzene in den erzliberalen Vereinigten Staaten selbstverständlich, hierzulande aber nicht ist – darüber. Man muss seine Werte nicht teilen, man kann sie als ewiggestrig betrachten, aber irgendwie kann man nicht anders als Respekt davor haben. Weil man irgendwie ahnt: Der Mann wäre diesselbe Wetter-Eiche, verfügte er über Geld wie Otto Normalbürger und könnte er nicht auf diese erstaunliche Art mutwillige Erbvernichtung betreiben.

Ein intellektuelles Zukunftsprojekt ist der Bachzyklus nicht. Ein authentisches schon. (wb)

Das Schweizer Fernsehen dokumentiert auf SF1 das Projekt am Sonntag, 18. Dezember 2011, um 10.30 Uhr in der «Sternstunde Religion»

Webseite des Projektes mit Bezugshinweisen für CD und DVD:
www.bachstiftung.ch

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