08.10.2010 — Ach, ist das alles traurig… Der Durchschnittsbürger auf der Suche nach seinem persönlichen Glück hatte es aber auch wirklich nicht leicht im ausgehenden 19. Jahrhundert mit all seinen sozialen, technischen und wirtschaftlichen Umbrüchen. Entdeckt wurden die Lebensumstände von Otto Normalverbraucher und seines Scheiterns von den grossen Romantikern und Realisten unter den Romanciers Frankreich. Mérimées «Carmen» bot die Vorlage zu Bizets gleichnamiger Oper. Diese wiederum und Verdis «La Traviata» bahnten den Weg für eine Bewegung in der italienischen Oper, die zwischen 1880 und 1920 eine relativ kurze Blüte erlebte: der Verismo. Die kleinen grossen Dramen und politischen Unruhen in Mittel- und Arbeiterklasse sollten dabei «realitätsnah» auf die Bühne gebracht werden, so weit davon in der per se hochkünstlichen Opernästhetik überhaupt die Rede sein kann.
Allerdings dominierten grosse Gefühle, Theatralik und Melodramatik die Werke der Vertreter der Gattung, die bereits (wie etwa explizit Puccinis «La fanciulla del West») sich auch auf die frühe Filmästhetik bezogen und etwas von der Emotionalität heutiger Soap Operas haben. Ausser Mascagni und Leoncavallo sind ihre Exponenten heute allerdings kaum mehr bekannt: Von Riccardo Zandonai ist möglicherweise noch «Francesca da Rimini» vertraut, von Arrigo Boito «Mefistofele»; aber Francesco Cilea, Alfredo Catalani, Umberto Giordano, Licinio Refice… Wer kennt sie noch ausserhalb eines Liebhaberkreises?
Renée Fleming, die dem Verismo 2009 wie ihr Kollege Jonas Kaufmann in diesen Monaten eine aktuelle CD gewidmet hat, findet dafür eine Erklärung: Entweder sei, so die Sopranistin, die Handlung der Werke unzeitgemäss, oder sie funktionierten auf der Bühne dramaturgisch nicht. Allerdings finden sich darin zahlreiche meist eher kürzere Nummern, die in verdichteter Form hochexpressive Momente der Dramatik bieten.
Ihnen widmen sich Kaufmann und Fleming, als hätten sie sich abgesprochen, mit einem ähnlichen Konzept. Kaufmann singt in einer Nummer der Fleming-CD («Bevo al tuo fresco sorriso» aus Puccinis «La Rondine») sogar mit. Der deutsche Tenor wird auf seiner CD «Verismo Arias» von Chor und Orchester dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia von Rom unter der Leitung von Antonio Pappano begleitet. Die Produktion ist im März dieses Jahres denn auch im Auditorium Parco della Musica in Rom realisiert worden.
Fleming ist von Chor und Orchester Sinfonica di Milano Giuseppe Verdi unter Marco Armiliatos Führung sekundiert worden. Die Aufnahmen zu ihrer CD «Verismo» erfolgten bereits 2008 im Auditorium di Milano. Man könnte sich für diese dichten, effektvollen und hochdramatischen Kleinode kaum bessere Besetzungen vorstellen als sie die beiden Produktionen prägen.
Natürlich finden sich da auch Ohrwürmer wie «Mi chiamano Mimi» aus Puccinis «La Bohème» (Fleming) oder – fast selbstredend – «Vesti la giubba» («lache, Bajazzo») aus Leoncavallos «Pagliacci» (Kaufmann). Es lassen sich aber auch Entdeckungen machen. Da ist vor allem eine Alternative zu Puccinis «La Bohème» aus der Feder Leoncavallos, der beide Tribut zollen. Stimmt Kaufmann mit Fleming darin überein, dass die meisten der Verismo-Opern heute kaum mehr integral aufgeführt werden könnten, ist er von der Bühnentauglichkeit dieser «Bohème» überzeugt. (wb)
Jonas Kaufmann: Verismo Arias. Orchestra dell’Accademia di Santa Cecilia, Roma, Antonio Pappano (Leitung), Arien von Zandonai, Giordano, Cilea, Leoncavallo, Mascagni, Boito, Ponchielli und Refice. Decca Best.-Nr. 478 2258
Renée Fleming: Verismo. Orchestra Sinfonica di Milano Giuseppe Verdi, Marco Armiliato (Leitung), Arien von Puccini, Catalani, Cilea, Giordano, Leoncavallo, Mascagni und Zandonai. Decca Best. 478 1533.