16.07.2010 — Der Dokumentarfilm «Rhythm is it!» über ein Projekt der Berliner Philharmoniker mit Schülern aus sozialen Brennpunkten Berlins hat Igor Strawinskys «Sacre du Printemps» zu einem Symbol jugendlichen Aufbrechens und Auflehnens gemacht. In der Zeit der Entstehung des Streifens wirkte Gustavo Dudamel als Assistent Simons Rattles, des Chefdirigenten des deutschen Spitzenorchesters. Strawinskys Skandalballett hat der venezolanische Shootingstar seither mehrere Male selber dirigiert, 2009 in Salzburg am Pult der Wiener Philhamoniker, und mit dem Simon Bolivar Youth Orchestra im gleichen Jahr in London, Madrid, Lissabon und in Venezuela. Mit seinen vertrackten Rhythmen und orchestralen Energieschüben bietet sich das Werk als Initiationsritus in die Welt der komplexen Klänge der Orchestermusik des 20. Jahrhunderts für ein Jugendorchester förmlich an – speziell für ein lateinamerikanisches, dem das physische Pulsieren dieser Musik vertrautes Terrain sein dürfte.
Auf der Einspielung für die Deutsche Grammophon – eine Liveaufnahme aus dem Centro de Acción Social por la Música in Caracas vom Februar dieses Jahres – kombiniert das Ensemble den Strawinsky-Klassiker mit «La noche de los Mayas», einer Tondichtung mit ähnlicher Konzeption des 1940 verstorbenen mexikanischen Komponisten Silvestre Revueltas Sánchez. Die 1939 ursprünglich für einen Film enstandene Partitur beschreibt ebenfalls Rituale, Tänze und Opferhandlungen. Speziell daran ist die Gelegenheit, die ein Variationensatz den Schlagzeugern zur Improvisation bietet, und da geht in der Abteilung Perkussion des Simón Bolívar Youth Orchestra nun gnadenlos die Post ab.
Auf der CD findet sich vermutlich nicht die ultimative Einspielung des «Sacre du Printemps». Die dunklen, sinnlich-schweren Zwischentöne der russischen Ballett-Tradition werden zugunsten der vitalen Aspekte da eher überspielt (auch die recht geringe Durchhörbarkeit des Klangbildes – vermutlich eine Folge komplexer akustischer Verhältnisse im Konzertsaal – reduziert etwas den Hörgenuss); eine interessante Sicht auf das Werk bietet sie aber sicherlich. Hellhörig macht sie, weil sie darauf hindeutet, dass da in Lateinamerika eine eigenständige Orchesterkultur im Entstehen begriffen ist, die den Witz, die Sinnlichkeit und Improvisationslust karibischer Tanzorchester ins moderne europäische Intepretationsverständnis traditioneller Kunstmusik genauso zu integrieren scheint wie die burschikos-erotischen Erzählwelten Lateinamerikas. Man ist gespannt, wie sich das alles entwickelt. (wb)
Igor Stravinsky: Le Sacre du Printemps, Silvestre Revueltas: La Noche de los Mayas, Simón Bolívar Youth Orchestra of Venezuela, Gustavo Dudamel (Leitung), Universal/Deutsche Grammophon, Best. Nr. 477 8775, auch als Download erhältlich.