08.01.2010 — Riccardo Chailly kann man wohl kaum als typischen Vertreter der Alte-Musik-Bewegung bezeichnen, zumindest nicht im üblichen Sinn, in dem Persönlichkeiten wie Harnoncourt, Herreweghe, Minkowski, Norrington oder Jacobs als solche wahrgenommen werden. Viel eher verkörpert er den zeitgemässen Typus des Dirigenten, der Erkenntnisse aus der historisch-kritischen Aufführungspraxis mit moderner Orchesterarbeit verbindet und dabei erfrischend undogmatische, rhythmisch vitale und klanglich subtil durchgeformte Interpretationen vorlegt.
Im Mendelssohn-Jahr wussten er und «sein» Leipziger Gewandhausorchester mit Alternativfassungen der Schottischen Sinfonie und der Hebriden-Ouvertüre sowie der Rekonstruktion eines dritten Klavierkonzertes des Jubilaren zu überzeugen (siehe die Codex flores Rezension). Und gerade über die Weihnachtstage profilierte sich der italienische Maestro mit Wiedergaben des Bachschen Weihnachtsoratoriums in Israel und Palästina, und zwar mit dem auf Barockes spezialisierten Orchester La Scintilla der Zürcher Oper.
Auf Bachs Werke fokussiert Chailly dieses Jahr auch in Sachen CD-Produktionen. Zur Zeit in die Läden kommt eine Gesamtaufnahme der Brandenburgischen Konzerte mit dem Gewandhausorchester, geplant sind überdies zur Jahresmitte zwei Silberscheiben mit der Matthäuspassion und schliesslich zum Jahresende das Weihnachtsoratorium, womit sich in einem Jahr für Chailly – allerdings mit seinem eigenen Klangkörper – der Bach-Kreis wieder schliesst.
Die sechs Konzerte Bachs werden nach wie vor häufig eingespielt, 2009 erschienen etwa gewichtige Versionen der English Baroque Soloists unter John Eliot Gardiner, des Bach Collegiums Japan unter Masaaki Suzuki und der Academy of Ancient Music unter Richard Egarr. Sie alle stellen sich den Herausforderungen: über weite Strecken dichte Textur, halsbrecherische Solopartien und zahlreiche heterogene Strukturen, die von dreifach geteilten Streichern über Gamben bis zu polyfunktionalen Cembalo-Parts reichen.
Im Vergleich zu anderen Werken des Thomaskantors haben die «Brandenburgischen» nicht zuletzt deshalb den Weg in den Konzertsaal im 19. Jahrhundert relativ spät gefunden. Und selbst heute noch, nachdem sei von unzähligen Dirigenten und Ensembles auf Tonträger gebracht wurden, ahnt man, dass in diesen weltlichen Orchesterwerken klanglich noch mehr Schätze stecken dürften, als bislang gehoben wurden.
Die Aufnahmen Chaillys und des Gewandhausorchesters sind schon Ende November 2007 aufgenommen worden und schneiden im Vergleich zu den erwähnten aktuellen Gegenstücken – auch derjenigen der typischen Barockspzialisten – sehr gut ab. Es handelt sich um Mitschnitte von Konzerten im Leipziger Gewandhaus. Da spielen exzellente Bläser – namentlich der Trompeter Julian Sommerhalder und der Blockflötenspieler Robert Ehrlich – auf, die klangliche Durchhörbarkeit ist hoch und die Spiellust offensichtlich. Ab und an begibt sich das Ensemble auch auf riskantes Terrain, etwa in gar forschen Tempi im zweiten Konzert oder der breitgewalzten Adagio-Kadenz im dritten, die (wohl der Preis der einmaligen Livepräsentation) sich nicht ganz organisch in die Form einfügen will.
Im Booklet werden Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte der Konzerte ausgebreitet. Im Zeitalter des Internets scheinen sich solche Informationen, auch wenn sie wie hier seriös und inhaltlich dicht dargeboten werden, als Begleitexte einer CD nicht wirklich aufzudrängen. Lieber hätte man das eine oder andere über Chaillys eigene Auffassungen zur Arbeit an diesen Werken gelesen.
Bach: Brandenburgische Konzerte, Gewandhausorchester, Riccardo Chauilly (Leitung), 2 CD, Decca 478 2191.