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Albrecht Mayer: Bachkonzerte für Oboe

13.10.2009 — An dem musikalischen Monument, das Bach hinterlassen hat, arbeitet sich jede Generation auf ihre Art ab. Albert Schweitzers humanistisch-theologisches Bachbild machte es zum Sinnbild von Universalität, als die ersten Vorboten der Globalisierung – auch in Schweitzers eigenem Wirken als Urwalddoktor – noch als Einweg-Botschaft verstanden wurden. Mit den 2007 abgeschlossenen, epochalen Arbeiten an der Neuen Bach Ausgabe, die ein halbes Jahrhundert in Anspruch nahmen, konzentrierte sich die Aufmerksamkeit wiederum auf die möglichst getreue Erschliessung des Werkcharakters, historisch-kritisch begleitet von praktischen Rekonstruktionen der Spielpraxis der Zeit. Nun scheint ein freierer, kreativer Umgang mit der Musik des Thomaskantors angesagt, der sich in Produktionen wie Hélène Grimauds Zusammenstellung von Bachbearbeitungen (Rezension) und Anne Sofie von Otters Kantaten-Album (Rezension) niederschlägt.

Konsequent geht auch der Oboist Albrecht Mayer diesen Weg. Zusammen mit dem Arrangeur Andreas Tarkmann hat er Sätze aus Kantaten zu je einem Konzert für Oboe d’amore, Englischhorn und Oboe zusammen gefügt und mit The English Concert als Begleitensemble eingespielt. Gerahmt werden die drei Neuschöpfungen von Chorälen wie «Was Gott tut, das ist wohlgetan» oder «Jesu bleibet meine Freude», gesungen vom Trinity Baroque Ensemble. Auch sie sind angereichert mit Orchester- und Oboenparts.

In den Konzert-Neuschöpfungen kommt es zu einer interessanten Verschränkung historischer Gepflogenheiten mit modernem Form- und Klanggefühl. Der freie, praxisorientierte Umgang mit dem musikalischen Material, das Bach hinterlassen hat, entspricht einerseits Sinn und Geist des barocken Musizierens mehr als die teils akribischen (und während der Arbeiten an der NBA absolut notwendigen) Forschungen zur Frage, welches als die korrekte Form der Werke Bachs betrachtet werden muss.

Meyer und Tarkmann schaffen aus den Kantaten-Nummern in einer Art instrumentalem Pasticcio-Verfahren andererseits nicht neue Konzerte, wie sie Zeitgenossen Bachs wohl kreiert hätten, sondern Gebilde, die dem Klang- und Formgefühl unserer Zeit entsprechen. Dies trifft vor allem auf das aus Bruchstücken der Kantate BWV 54 extrahierte Konzert für Englischhorn, Streicher und Basso Continuo zu. Es klingt modern, klanglich kühn und fast unbachisch kernig, schafft zum ästhetischen Kosmos des Thomaskantors aber ganz neue Zugänge und unterstreicht dessen kompositorisch-handwerkliche Genialität durchaus.

Auch das neu kreierte Konzert für Oboe d’amore auf Basis von Elementen aus BWV 209 zeigt überraschende Potentiale des bachschen Schaffens, ein anmutig fliessendes Schnell-langsam-schnell-Triptychon mit viel Italianità, in dem der Solopart allerdings immer etwas in einem zu tiefen Register angesiedelt zu sein scheint.

Mayer deutet die Funktion der Oboe in der Musik Bachs in gewisser Hinsicht um. Setzt das Instrument in den Kantaten mit seiner klaren, melancholisch-klagenden und schicksalsergeben anmutenden Instrumentallinien einen tänzerischen Gegenpol zu den Vokallinien, versteht er das Instrument als Imitatorin der menschlichen Stimme, dem er – wie schon im Falle eines vorangehenden Händel-Projektes – neue Ausdruckbereiche erschliessen will. Entstanden ist im Falle des Bach-Konzeptalbums so ein in sich stimmiges, originelles Ganzes, das Respekt vor Bachs Intentionen mit zeitgemässer Klangsensibilität verbindet und Perspektiven zum heutigen Umgang mit barocken Zeugnissen öffnet. (wb)

Albrecht Mayer: Bach. Werke für Oboe und Chor, arrangiert von Andreas Tarkmann. Albrecht Mayer (Oboe), The English Concert, Trinity Baroque (Julian Podger, Leitung). Decca, Best.-Nr. 478 2043.

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