Drücke „Enter”, um zum Inhalt zu springen.

Improvisationen über Schweizer Lieder

07.08.2009 — Der Jazz hat die Kunst der Improvisation zu einer ganz eigenen Ausdrucksform gemacht und dabei die Regeln für die spontane Art des Musizierens auf eigene Art definiert. Es ist dabei keineswegs so, dass da immer alles pure Erfindung ist. Vielmehr verfügt der Jazzmusiker über einen reichen Baukasten an Elementen, Formen, Klängen, Rhythmen, die er kunstvoll kombiniert und, wenn er es in seinem Fach wirklich zur Meisterschaft bringt, daraus auch einen originellen eigenen Stil erschafft, in dem sich die echte Erfindung gegenüber der Rekombination von Klischees ihr Recht erstreitet. Der Akzent liegt dabei – auch auf den Harmonieinstrumenten Gitarre, Orgel oder Klavier – in der Regel auf einer immer kunstvolleren Form der fein ausziselierten, sich stetig fortspinnenden Melodik, die mit impressionistisch anmutenden harmonischen Farbtupfern auf originelle Art koloriert werden, zumindest in der Tonsprache, die sich als Mainstream der Jazzgeschichte herausgebildet hat.

Auch in der europäischen Kunstmusik wurde früher oft und gerne improvisiert, der barocke Basso continuo erinnert dabei durchaus an die zeitgenössischen Jazztechniken. Mit der Klassik und der Romantik bildete sich aber ein Idiom heraus, das seine Bausteine nicht wie der Jazz in Licks, Changes und Patterns und wie sie in dessen Theorie sonst so heissen, findet, sondern in kontrapunktischen Begleitformeln, Kadenzierungen, aus den Tanztraditionen stammenden rhythmischen Zellen und motivischer Arbeit. Zu höchster Meisterschaft brachten es dabei Pianisten wie Liszt oder der gebürtige Genfer Sigismund Thalberg. Heutzutage ist das Improvisieren im klassischen Idiom vor allem noch unter den Organisten verbreitet, aber selbst die kundigen Orgelimprovisatoren gehören zu einer aussterbenden Gattung, zu stark ist der Sog der eleganten und subtilen «neuen» Art des Improvisierens, die der Jazz nach Europa exportiert hat.

Freieren Umgang mit den typischen Bausteinen der klassischen Komposition eigneten sich im 20. Jahrhundert vor allem Begleiter von Stummfilmen, Ballett-Korrepetitoren und Barpianisten an, die tagein-, tagaus, wenn nicht jahraus-, jahrein die immer gleichen Fugati, Alberti-Bässe, Chopin-Läufe, Barcarolen, Mazurken, Walzer, Tangos, Czardas und so weiter abzunudeln hatten und denen damit deren Schablonen in Fleisch und Fingerspitzen übergingen.

Etwas von dieser hohen Kunst des europäischen instant composing lässt die bulgarische Pianistin Galina Vracheva wieder aufleben. Interessanterweise scheint sie auch die gesellschaftliche Umgebung, in der sie sich dabei bewegt, die grossbürgerlichen Traditionen des 19. Jahrhunderts, in denen diese Kunst ihre Wurzeln hat, wieder aufleben zu lassen. Die Künstlerin tritt gerne im Ambiente geschichtsbeladener Luxushotels auf, dem Dolder in Zürich, im Bellevue-Palace in Bern, im Schweizerhof Luzern, und sogar im Saal der Zürcher Freimaurerloge und auch wie einst Liszt oder Chopin in Salons geschlossener Gesellschaften.

Auch die Faszination des Orients, die der Spätromantik eigen war, scheint sich in ihrer Konzertagenda zu spiegeln, mit Auftritten in Zagreb und Damaskus. Und selbst das Zirzensische, das dieser Art des Virtuosentums immer eigen war, scheint da reproduziert zu werden: Liest man, dass Vracheva zusammen mit ihrem Hologramm im Zürcher Dolder an zwei Bösendorfer Konzertflügeln aufgetreten sein soll, fühlt man sich unversehens in Offenbachs Oper «Hoffmanns Erzählungen» versetzt.

Radio Swiss Classic und Deutsche Grammophon dokumentieren Vrachevas Improvisationen mit einer CD, für die Schweizer Lieder als Stichwortgeber dienen. Die vorwiegend simplen Melodien haben da bloss die Aufgabe einer Art Marksteine. Die Pianistin verblüfft dabei weniger mit differenziertem Anschlag und ausgeklügelter Dynamik (die Mikrophonierung scheint in dieser Hinsicht auch nicht viel Spielraum zu lassen) als mit teils verblüffenden harmonischen Wendungen und einem scheinbar unerschöpflichen, mit Spielwitz und Fantasie genutztem Reservoir an Versatzstücken aus der europäischen Musikgeschichte. Einer der Höhepunkte bildet zweifellos eine Fuge mit vorangestelltem Präludium über das Thema des Beresinaliedes. Bach und Chopin scheinen generell die Ecksteine von Galina Vrachevas improvisatorischem Kosmos zu bilden.

Interessant ist im übrigen, ihre Versionen der Freiburger Ranz des Vaches mit denjenigen des Jazzpianisten Thierry Lang zu vergleichen (siehe Codex-flores-Rezension), die Unterschiede im Improvisationsverständnis von Klassik und Jazz zeigen sich wohl kaum anderswo sonst so eindrücklich. (wb)

Galina Vracheva: Die Kunst der Paraphrase, Romantische Fantasien und Virtuositäten über Schweizer Lieder. Radio Swiss Classic/Deutsche Grammophon, Doppel-CD, Universal 476 353-8.

Schreibe einen Kommentar