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Deqing Wen und die fünf Formen der Kalligrafie

24.07.2009 — Schrift und Musik – das ist ein Paar, das Musiker immer wieder herausfordert, ja irritiert. Die Notenschrift selber hat ja schon einen ganz eigenen ästhetischen Wert, der die Art, wie Instrumentalisten und Sänger die klingende Kunst verstehen, beeinflusst. Schrift hat aber nicht bloss als Schrift-bild mit seinen Rhythmen, Leerstellen und Ornamenten etwas Musikalisches, auch der Vorgang des Schreibens weckt Assoziationen zur Tonkunst. Speziell trifft dies zu auf die Formen, die als Kalligrafie zu einer Art meditativer, hoch artifizieller Tätigkeit weiterentwickelt worden sind. In Europa wurde dieses Handwerk vor allem in den mittelalterlichen Schreibstuben praktiziert. Die Mönche erzeugten die Anfangsbuchstaben von Texten im fortlaufenden Fluss, die Hand durfte dabei nicht absetzen, schlich sich ein Fehler ein, blieb er stehen. Dieses Ritual hat der deutsche Komponist Hans Zender auf Musik übertragen. Seine 2004 in Berlin uraufgeführten «Kalligraphien» sind «in einem Fluss, ohne die Hand abzusetzen, ohne zu streichen oder nachzubessern», aufs Papier gebracht worden.

Zu einem zentralen Motiv ist die Kalligrafie in der ostasiatischen Kunstmusik geworden. Hierzulande finden sich im Konzertleben in dieser Hinsicht etliche Spuren. 2007 hat das Amati Quartett den japanischen Komponisten Toshio Hosokawa mit dem Schreiben eines neuen Werkes beauftragt. Entstanden sind so sechs Stücke für Streichquartett, die den Namen «Kalligrafie» tragen. Seine Töne entsprechen laut einer Charakterisierung Hosokawas den Schriftzeichen – Linien und Punkten – , die mit unterschiedlichen Pinseln auf eine «Leinwand des Schweigens» geschrieben sind.

Das Aargauer Symphonie Orchester wiederum hat im März dieses Jahres die Symphonie «Dharani» des japanischen Komponisten Isao Matsushita in den Konzertsaal gebracht. Zu der Musik des anfangs nur improvisierenden Orchesters malte der japanische Kalligraf Tetsuo Terasaki auf der Bühne drei chinesische Schriftzeichen auf grosse Tafeln.

Ein radikale und geistige tief in die rätselhaften Verbindungen von Schrift, Sprache, Klang und Musik dringende Auseinandersetzung führt auch der chinesisch-schweizerische Komponist Deqing Wen, der heuer beim «Davos Festival – young artists in concert» als Composer in residence amtet. Das Label Musiques Suisses des Migros Kulturprozentes hat rechtzeitig zu diesem bemerkenswerten Auftritt im Prättigau des ansonsten schwergewichtig in der Westschweiz und Schanghai tätigen Tonschöpfers eine repräsentative CD mit früheren Werken und unterschiedlichen Interpreten, darunter das Collegium Novum Zürich und das Orchestre de la Suisse Romande, produziert.

Zwei der darauf vertretenen Werke entstammen einem Zyklus, der die «fünf verschiedenen Formen der Kalligrafie» porträtiert. «Traces IV» für die chinesische Trompete Suo-na und grosses Orchester bildet die flüchtige Schrift ab, die auch als «ungezügeltes Pferd» charakterisiert wird. «Traces II» für Flöte, Klarinette, zwei Perkussionisten, Klavier, Geige, Bratsche, Cello und Kontrabass ist eine Reverenz an den «warmherzig-echten Stil».

Denqin Wens Musik ist für europäische Ohren gewöhnungsbedürftig, lehnt sie sich doch stark an die Klänge und das Instrumentarium der traditionellen chinesischen Musik mit ihren schnarrenden, nervös-vibrierenden Spieltechniken und hochfrequenten Mixturen an. «Traces IV» klingt denn oberflächlich auch, wie wenn sich ein Ensemble der Kunqu-Oper in ein Freejazz-Lokal der 1960er-Jahre verirrt hätte. Der an ein Sopransaxophon erinnernde Klang des Suo-na tut dazu das Seinige. Beim zweiten Hinhören öffnet sich in den Stücken aber ein feinnerviger, hochdifferenzierter Klangkosmos, der – wie etwa auch im Vogelstimmenduo «Two Birds in one Cage» für Oboe und Englischhorn – Deqing Wen als virtuosen Wanderer zwischen den Welten akustischer Mimikry und poetischer Stilisierung von Umgebungsklängen zeigt. (wb)

Denqin Wen. Musiques Suisses Grammont Portrait. «Traces IV», für Suo-na und grosses Orchester; «Two Birds in one Cage» für Oboe und Englischhorn; «Ink Splashing I» und «Traces II» für Kammerensemble; «Spring, River and Flowers on a Moonlit Night», Konzert für Pipa und Kammerorchester. MGB CTS-M 116.
Bezugsnachweis: www.musiques-suisses.ch

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