26.06.2009 — Eigentlich ist ja erst gut ein Vierteljahrhundert vergangen, seit ein tiefgreifender Wandel das Erscheinungsbild der Musikbranche ergriffen hat. Die relativ grossflächigen Langspielplatten sind abgelöst worden durch die deutlich kleineren Compact Discs, die in Sachen Hüllengestaltung weitaus weniger Spielraum lassen als die beachtlichen Kartons der Vinylscheiben. Nun befinden wir uns in einer noch weit radikaleren Umbruchphase, in der sich Musik vollständig von einem Trägermedium zu lösen scheint und als digitale Dateien keiner Materialisierung mehr bedarf – es sei denn in Form begleitender Webseiten, denen aber das haptische Erlebnis der Scheiben-Hüllen gänzlich abgeht. Da wirkt ein Blick zurück auf die Kunst der Grafik des Vinylzeitalters schon fast wie eine archäologische Expedition in ein versunkenes Land der versponnenen Poesie.
Möglich macht diese Reise ein mit grosser Sorgfalt, hohem Geschmack und viel Detailwissen um die Geschichte der bedeutenden Labels in Ost und West zusammengestelltes Buch der «Cover Art». Der im Berliner Design-Verlag erschienene Band «Classique. Cover Art for Classical Music» greift auf die Kollektion des deutschen Sammlers Horst Scherg zurück, der auch als Autor des Buches amtet. Zu 777 Coverabbildungen aus den Beständen legendärer Labels vornehmlich aus den USA sowie Zentral-, Nord- und Osteuropa hat er einige in Englisch verfasste Essays zur Geschichte dieser ganz eigenen Kunst und seiner eigenen Besitztümer verfasst.
Die Abbildungen, die teils faszinierende gestalterische Mikrokosmen auffächern, sind in Kapitel gegliedert, die einerseits historische Linien nachzeichnen, von den illustrativen Anfängen in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts bis zu den Fotocollagen der siebziger. Andererseits werden thematische Linien verfolgt, etwa Naturmotive als Metaphern für die Musik, der Rückgriff auf die Malerei, abstrakte Formen und Nationalstile. Der Betrachter kommt dabei immer mehr ins Staunen ob der Fantasie, der poetischen Kraft und des handwerklichen Könnens in diesem Universum der Gebrauchsgrafik.
Der Band fächert im Speziellen eine Fülle von Materialien aus den ehemaligen Ostblockländern mit ihrer ganz eigenen Ästhetik auf. Er ergänzt damit ein Kennern vertrautes älteres Standardwerk, Jaco van Witteloostuijn’s «The Classical Long Playing Record» aus dem Jahr 1997, ein antiquarisches Verzeichnis aus den Niederlanden, das seinen Fokus auf die westeuropäischen Labels richtet.
Zu guter Letzt ist «Classique» auch ein Kompendium der historischen Label; in einem eigenen Kapitel werden deren typische runde Zentrums-Aufkleber auf den Platten dokumentiert. Diese liefern dem Sammler übrigens mehr Informationen als man vermuten würde. Die Plattenfirmen realisierten nicht selten mehrere Auflagen einer Aufnahme, die zwar immer mit der gleichen Plattenhülle ausgeliefert wurden, aber mit wechselnden Stickern auf der Platte selber versehen waren. Sie verraten so, ob tatsächlich eine «Erstauflage» vorliegt. Wie Buchliebhaber scheinen Plattensammler mit Vorliebe Jagd auf solche Erstdrucke zu machen und diese besonders hoch zu handeln.
Der detaillierte Sticker-Katalog und ein Webseiten-Verzeichnis dürften dem Kollektor also wertvolle Dienste leisten, die teils grosszügigen Abbildungen der Covers wiederum Grafikern und Branding-Experten heutiger Klassikprodukte eine hochklassige Quelle der Inspiration. Aber auch der einfache Liebhaber wird beim Eintauchen in diese versunkene Welt des haptischen Klassikerlebnisses ahnen, dass jeder Gewinn an Vielfalt und Verfügbarkeit des Angebotes auf dem Musikmarkt auch mit einem Verlust an Liebe zum Detail und zur Einzigartigkeit verbunden ist. (wb)
Classique. Cover Art for Classical Music. Horst Scherg (Hsg.), Texte in Englisch, 777 Cover-Abbildungen, € 39,90, Format: 24 x 28 cmm, 224 Seiten, ISBN: 978-3-89955-228-7. Bezugsnachweis: www.gestalten.com Auf der Detailseite zum Band finden sich auch Beispielseiten aus dem Buch.