17.04.2009 — Es fällt auf, dass Nachwuchspianistinnen und -pianisten aus China für ihre ästhetischen Visitenkarten in Form einer CD sich mehr und mehr auf das romantische Repertoire konzentrieren – vornehmlich in seiner hypervirtuosen Ausprägung. Yundi Li hat für die Deutsche Grammophon Klavierkonzerte von Chopin und Liszt eingespielt, See Siang Wong etliches aus dem Schumannschen Tastenkosmos; selbst Lang Lang dient sich dem Publikum zur Zeit mit den Chopin-Klavierkonzerten an – nachdem er bereits Tschaikowsky, Mendelssohn, Rachmaninow, Paganini und Skrjabin seine Reverenz erwiesen hat.
Ihre Kolleginnen halten es ebenso. Wenn die junge Sa-Chen im Mai in Luzern ein Rezital gibt, stehen auf dem Programm Werke von Mendelssohn, Schumann, Chopin und Liszt. Auch die 22-jährige Yuja Wang präsentiert für Deutsche Grammophon zum Einstand eine CD mit Werken von Chopin, Skrjabin und Liszt (mit zwei kürzeren Ligeti-Etüden als Impromptus). Das Programm bringt mit Chopins zweiter Klaviersonate op. 35, Skrjabins zweiter Sonate op.19 und Liszts h-Moll-Sonate S178 eine geballte Masse an geniegetränkten Fingerbrechern.
Man kann das Phänomen vordergründig erklären: die Stars aus dem Reich der Mitte präsentieren Chopin, Liszt und Skrjabin aus einem einfachen Grund: Sie’s können. Aus dem riesigen Pool an unglaublich hart arbeitenden und unglaublich leistungswilligen jungen Musikern Chinas resultiert natürlicherweise eine schmale Elite aus Spitzenkönnern, denen technische Probleme nicht einmal ansatzweise Probleme zu schaffen scheinen. Mit Fuo Tsong hat das Land überdies einen legendären Lehrmeister, der bereits 1955 beim Chopin-Wettbewerb in Warschau ausgezeichnet worden ist. Eine Neuentdeckung ist das romantische Repertoire für die Chinesen sicherlich nicht.
Man kann den aktuellen Hang zur romantischen Hypervirtuosität aber auch mit einem Wandel des kulturellen Selbstverständnisses verstehen. Das, was diese Musik verkörpert, scheint ungleich mehr als die Werke Bachs oder Mozarts republikanische Individualität und Emotionalität zu verkörpern, und damit so etwas wie die Gegenthese zu chinesischem Harmoniestreben und Kollektivgeist. In der Musik übernimmt die romantisch-virtuose Klaviermusik somit möglicherweise die Funktion, die in der chinesischen Wirtschaft eine krude Form von frühindustriellem Radikalkapitalismus faktisch bereits eingenommen hat.
Interessant ist, was Yuja Wang selber zu ihrem künstlerischen Werdegang erzählt. Sie habe, erklärt sie im Booklet, in China einfach genau das tun müssen, was ihr ihre Lehrer vorgeschrieben hätten. Als sie das Land mit 14 Jahren verlassen habe, um in den USA und Kanada weiterzustudieren, sei sie gezwungen gewesen, sich darauf einstellen, dass ihr keiner mehr gesagt habe, was sie tun solle.
Sie spricht damit diesen Wandel von Kollektiv-Werten zur Suche eines individuellen ästhetischen Weges an, der auch die Beschäftigung mit den romantischen Pianisten/Komponisten zu motivieren scheint. Dennoch bleibt Wang als künstlerische Persönlichkeit (noch) recht schwer fassbar. In einem Videointerview etwa, das als Promotionsmaterial vertrieben wird, erfährt man von ihr nichts, was über Gemeinplätze, wie Musik diene der Kommunikation, hinausgehen würde.
Ein wenig erscheint sie gegenüber den pianistischen Monumenten wie die artige Alice, die sich ins Wunderland der existentiellen Absurditäten und Skurrilitäten, in die Welt von Goethes «Faust», die sie als Leitfaden des Programmes der CD beschwört, verirrt hat, ohne wirklich zu realisieren, worauf sie sich da wirklich eingelassen, und was das alles mit ihr zu tun hat.
Ihr stärksten Momente scheint sie denn auch dort zu haben, wo sich Klarheit und Präzision mit klanglichem Schalk verbinden kann, in den Ligeti-Etüden und dem letzten Satz der Chopin-Sonate etwa. Aber auch wer sich ihre spiel- und gestaltungstechnisch souveräne Interpretation von Liszts h-Moll-Sonate anhört, wird ihren künftigen künstlerischen Werdegang mit zugeneigter Neugier verfolgen. (wb)
Yuja Wang: Sonatas & Etudes, Werke von Chopin (Sonate Nr. 2 b-Moll), Skrjabin (Sonate Nr. 2 gis-Moll), Liszt (Sonate in h-Moll) und Ligeti (Etüden 4 und 10). Deutsche Grammophon 477 8140.