22.08.2008 — Am Rande der Gotthard-Route, im Herzen der Schweiz, liegt der Urner Hauptort Altdorf. Seit 1512 sind dort szenische Aufführungen der Tell-Sage belegt, seit 1823 als volkstümliche Umsetzung des 1804 entstandenen Stücks «Wilhelm Tell» von Friedrich Schiller. An den Produktionen mit nationaler Ausstrahlung nimmt der ganze Ort teil, Zu Beginn des 20. Jahrhunderts getragen vom lokalen Männerchor, später von der Tellspiel- und Theatergesellschaft Altdorf, die ein 1925 eigens für die Aufführungen errichtetes Tellspielhaus bespielt − und dies keineswegs in nationalistisch-musealer, sondern höchst lebendiger und weltoffener Form. In unmittelbarer Nähe zum Theaterhaus findet sich das Haus der Volksmusik, in dem als Gravitationszentrum einer Bewegung der Neuen Volksmusik das volksverbundene Musizieren aus der folkloristischen Tradition einerseits historisch aufgearbeitet, andererseits experimentell weiterentwickelt wird.
In diesem Spannungsfeld findet sich auch die Musik des Hackbrettspielers Töbi Tobler zur aktuellen Inszenierung von Schillers Klassiker, die künstlerisch neue, radikale Wege geht. Verantwortlich dafür zeichnet der Regisseur Volker Hesse, der sich schon mit der Umsetzung von Thomas Hürlimanns Welttheater in Einsiedeln einen hervorragenden Namen als Spezialist für kantige und hochklassige Laienproduktionen geschaffen hat. Und tatsächlich glaubt man, einiges vom Einsiedler Hesse-Stil auch in Altdorf wieder zu erkennen. Er hat aus dem Stück, für das die Bühnenbildnerin Hyun Chu eine Art Laufstegbühne geschaffen hat, ein archaisch anmutendes, düsteres Spiel geschaffen, das streckenweise fast mehr an eine griechische Tragödie erinnert als an ein romantisches Freiheitsspiel.
Dem Volk, das häufig in tanztheatralischer Form verfremdet auftritt, stehen Gesslers Schergen gegenüber, deren paramilitärisch schwarzes Outfit an die Handlanger totalitärer Staaten wie Gestapo oder Securitate erinnern. Im Rütlischwur formieren sich die unterdrückten Männer keineswegs zum heroischen Widerstand, sondern vielmehr zu einer Art archaischem Wolfstanz, und die Frauen stehen dem untersetzten und schmierig wirkenden Statthalter wie die Arbeiterinnen aus der Tabakfabrik in Sauras «Carmen» gegenüber: herausfordernd, kraftvoll und streng choreografiert.
Statt farbenprächtige Bühnenbilder beherrschen stumpfe Schwarz- und Blautöne die Szenerie, blutüberströmte Körper bilden dazu in einzelnen Szenen einen schockartigen Kontrast. Die aus schlichten, unbehandelten Pressholzbrettern gezimmerte Bühne dient dazu als schlichter räumlicher Rahmen; und so schmucklos sie sich gibt, so vielfältig wird sie selber zum Musikinstrument − als Resonanzboden für Schritte, Geprassel und mannshohe Stöcke, mit denen vom Kollektiv Rhythmen geschlagen, Schüsse- und Peitschenhiebe imitiert und das Grollen der Natur evoziert werden.
Töbi Tobler hat dem dunklen und schnörkellosen Grundton der Inszenierung entsprechend eine reduzierte Musik geschaffen, die aus der Improvisation während der Proben gewachsen ist. Obwohl sie mit dem Stück fest verwachsen scheint, kann sie auf der Einspielung durchaus für sich alleine stehen. Mit dem Hackbrett, den Stöcken und den Stimmen hat der Appenzeller minimalistische Stücke kreiert, die eine dichte, streckenweise beklemmende Atmosphäre schaffen und akustisch viel von der Stimmung des Spiels hinüberbringen. (wb)
Töbi Tobler: Tell-Musik. mit Töbi Tobler (Hackbrett und Stimme) und den Schauspielerinnen und Schauspieler der Tellspiele Altdorf 2008. Musiques Suisses Reihe Neue Volksmusik, MGB-NV 6. Webseite der Tellspiele: www.tellspiele08-altdorf.ch