16.05.2008 — Es mag erstaunen, in einem Magazin zur klassischen Musik ausgerechnet die Sängerin rezensiert zu sehen, die im Moment als die ultimative Verkörperung von Sex, Drugs and Rock ’n‘ Roll gilt. Sie füllt die Klatschspalten mit Alkoholabstürzen, Drogenmissbrauch, Knastbesuchen, Disziplinlosigkeit, Magersucht und verpfuschten Konzerten, und zur Zeit überdies mit der Unfähigkeit, für einen James-Bond-Titelsong auch nur ein paar gerade Töne hinzubringen. Ihre streckenweise unbeholfenen Texte deklinieren Liebesentzug und Trostsuche im Rausch immer neu durch und gehören auch nicht gerade ins Kapitel Belles Lettres; sie sind direkt und ungehobelt. Auf allen Fotos im Booklet blickt uns die Sängerin genauso ungeniert an, als warte sie bloss darauf, dass man sie auch nur einen Moment aus den Augen lasse, um hinter unserem Rücken alsogleich wieder zur Flasche zu greifen. Verdichtet ist dieser Gestus im Erfolgssong «Rehab», in dem sie die strikte Verweigerung einer Entziehungskur zum Kategorischen Imperativ erhebt.
Es gibt mindestens zwei Gründe, sich mit Amy Winehouse zu beschäftigen. Da ist zunächst einmal die Tatsache, das Frau Winehouse vermutlich als Jahrhunderttalent bezeichnet werden müsste, wäre dieses noch nicht so jung. Ihre Wiederbelebung des Motown-Sounds und die Stimme, die an Billie Holiday und Janis Joplin erinnert, ist vielleicht das Beste, was der populäre Musikmarkt derzeit zu bieten hat. Für einmal muss man auch den Juroren Recht geben, die sie für das Album gleich mit fünf Grammys auf einmal überschüttet haben (sie konnte sie allerdings nicht persönlich entgegennehmen, weil sie wegen ihrer Drogengeschichten für die USA zunächst kein Visum erhielt).
Der zweite Grund ist ein moralischer. Die Zurschaustellung Amy Winehouses in der Presse lässt die Frage aufkommen, wie eine solche Existenz am Rande der Gesellschaft und expressive Kraft zusammenhängen. Die Britin setzt ja bloss eine Tradition fort, die genialische Ausdruckskraft und psychische Selbstzerstörung immer wieder vereint. In dieser stehen auch Billie Holiday und Janis Joplin, und in jüngerer Zeit die Souldiva Whitney Houston. Ist die verletzte Seele notwendige Bedingung ausserordentlicher künstlerischer Ausdruckskraft? Muss Frau Winehouse kaputt sein, um zu einer solch durchdringenden Expressivität zu finden?
Dem Musikmarkt kann dies egal sein. Ihm genügt, dass die paranoiden Exzesse die voyeuristische Aufmerksamkeit schüren. Die Luxusgüter- und Unterhaltungsindustrie veredelt Drogensucht, häusliche Gewalt und Bulimie und verleiht ihnen eine fatal anziehende Art von Glamour. Magersüchtige Laufstegmodels und drogensüchtige Sängerinnen sind heute auf eine perverse Art chic geworden. Aber auch schon vor Billie Holiday sind solche Miseren zu existentialistischen Gesamtkunstwerken verklärt worden. Im Grunde genommen sind sie bloss eine Fortsetzung dessen, was die tragische Oper des 19. und 20. Jahrhunderts vorexerziert hat − man denke an Puccinis Mimi, Bergs Lulu, Massenets Manon oder Bizets Carmen und wie die femmes fatales alle heissen, an die offenbar unwiderstehlich morbide Anziehungskraft von Autoaggression und zerstörerischen Beziehungen.
Amy Winehouse ist die Manon des 21. Jahrhunderts. Und man kann Wetten darauf abschliessen, wann ein urbaner avantgardistischer Komponist die erste Winehouse-Oper schreiben wird. Gérard Mortier dürfte sich die Option der Uraufführung an der New Yorker City Opera bereits gesichert haben.
Dabei könnte vergessen gehen, um was es sich bei den Lebensschicksalen Joplins, Winehouses und Houstons tatsächlich handelt: Um wenig freudbringende Krankengeschichten, um narzisstische Störungen, um soziales Elend, denen Unterhaltungswert zuschreiben vom blanken Zynismus der Musikindustrie zeugt.
Miseren haben über den plumpen voyeuristischen Unwert hinaus nichts Reizvolles an sich. Je schneller sie beseitigt sind, umso besser. Nicht auszudenken, zu was für Höhenflügen ein Talent wie Amy Winehouse fähig wäre, wenn es mit derartigen Selbstbehinderungen schon so grossartige Musik zu machen imstande ist. Was man Frau Winehouse zuallererst wünscht, ist deshalb die innere Kraft zu ausdauernder produktiver Arbeit. In unser allem Interesse. (wb)
Amy Winehouse: Back to Black, Island Records (Universal).