25.01.2008 — Die «Gold»-Doppel-CD vereint anlässlich des 100. Geburtstages Herbert von Karajans die «grössten Klassik-Hits» unter der Stabführung des «ersten und letzten Pult-Titanen» (O-Ton Booklet) des 20. Jahrhunderts. Mit zwei Ausnahmen kommen dabei die Berliner Philharmoniker zum Zug (die Ausnahmen sind der erste Satz aus Dvoráks Sinfonie «Aus der Neuen Welt» und Smetanas «Moldau», und das scheint ja durchaus sinnvoll). Die Kompilation lässt nun wirklich kaum eine Ikone der populären Klassik aus. Das geht von Bizets Carmen-Vorspiel über den ersten Satz aus Mozarts «Kleiner Nachtmusik», dem Rondo aus dem Beethoven-Violinkonzert (natürlich mit Anne-Sophie Mutter an der Geige), die Blaue Donau, den Radetzky-Marsch, Tschaikowskys Blumen-Walzer, Bachs Air, Griegs «Peer Gynt», Ravels Boléro, den ersten Satz aus Beethovens Fünfter, den Pachelbel-Kanon, Massenets Thais-Meditation und Offenbachs Hoffmann-Barcarolle bis zur «Leichten Kavallerie» von Suppé. Im Einzelhandel müsste das Album also irgendwo zwischen André Rieu und Kuschel-Klassik eingereiht werden. Hoffen wir, dass ihm die Schmach erspart bleibt.
Der Gerechtigkeit halber muss gesagt werden, dass dies beileibe nicht die einzige CD der Deutschen Grammophon zum Jubiläum von Karajans ist. Bereits auf dem Markt ist die editorisch deutlich interessantere CD/DVD-Kombination «Karajan − The Music, The Legend» , auf der sich etwa zum ersten Mal überhaupt Bachs Doppelkonzert mit Christian Ferras und Michel Schwalbé als Solisten findet. Zudem werden vom Label mit dem gelben Balken eine ganze Reihe von Einspielungen Karajans neu aufgelegt (die Details dazu finden sich auf dieser Webseite).
Die «Gold»-Ausgabe ist dennoch interessant, erlaubt sie doch quasi im Schnelldurchlauf ein Ohr voll von dem Universum Karajans in den Jahren von 1967 bis 1985 zu nehmen − und auch gleich festzustellen, welche gewaltigen Entwicklungen die interpretatorischen Differenzierungen von Stilen und Epochen seither durchgemacht haben. In Karajans Klangkosmos scheint alles perfekt, aber etwas steril und geglättet, als spiegle sich darin das Schönheitsideal des Wirtschaftswunders mit seiner Nierentischchen- und Milchglas-Ästhetik. Das «Gold» verrät, was Karajan trotz aller Fortschrittlichkeit und Offenheit vor allem war: ein Kind seiner Zeit.
Dies ist für diejenigen, die Musik auch als Mittel der Selbst- und Welterkenntnis verstehen, allerdings nur die halbe Wahrheit. Denn Karajan ist für den deutschsprachigen Raum auch ein Pionier und Anreger physiologischer und neurologischer Forschungen in der Musikologie: 1968 hat er in Berlin eine Stiftung «zur Förderung der wissenschaftlichen Erforschung der bewussten musikalischen Empfindung» gegründet, die ein Jahr später mit ähnlichen Aktivitäten der Paris Lodron-Universität in Salzburg zum «Forschungsinstitut für experimentelle Musikpsychologie» zusammengelegt worden ist – verbunden mit Symposien jeweils zu den Osterfestspielen.
Gefördert wurden die Arbeiten an der Psychophysiologie des Musizierens auch vom Karajan Centrum in Wien, das als «Eliette und Herbert von Karajan Institut» mittlerweile wieder in Salzburg angesiedelt ist − allerdings ohne wesentlichen Bezug zu den wissenschaftlichen Aktivitäten, die sich rund um das Centrum in Österreich in Salzburg und Ossiach entfalteten. Auf seiner Webseite www.karajan.org finden sich dafür die Details zu den geplanten Veranstaltungen im angelaufenen Jubiläumsjahr von Karajans. (wb)
Karajan Gold. Berliner Philharmoniker, Wiener Philharmoniker, Anne Sophie-Mutter, Werke von Bach, Beethoven, Bizet, Dvorák, Grieg, Holst, Mascagni, Massenet, Mozart, Offenbach, Pachelbel, Ravel, Rossini, Smetana, Suppé, J. Strauss I J. Strauss II, Tschaikowsky und Vivaldi. Deutsche Grammophon CD 477 7341.