16.11.2007 — Wer den zur Zeit sehr populären portugiesischen Fado ins Herz geschlossen hat, der wird sich mit Sicherheit auch für die etwas weniger bekannte originiäre Tradition des neapolitanischen Liedes erwärmen können, die in der instrumentalen Kolorierung und sogar in den Lauten der Sprache dem lusitanischen Gegenstück sehr ähnlich ist. In der Grundstimmung der atlantischen, respektive mediterranen Liedtraditionen gibt es dennoch charakteristische Unterschiede: Ist der Fado von einer archaischen und erdenschweren Emphase geprägt, zeichnet sich das neapolitanische Lied durch betörende, ruhig atmende Sinnlichkeit und zärtliche Traurigkeit aus. Zu entdecken gibt es diese Liedkunst, die Texte von hoher poetischer Kraft in intime Zwiegespräche bringt, auf der CD «Mare, luna e d’intorni», dem Mitschnitt eines Konzertes, welches das Duo della Sibilla am Festival La Folia (www.festival-la-folia.ch) im Welschschweizer Rougemont realisiert hat.
Das Duo besteht zum einen aus dem 1951 geborenen Tenor Luciano Catapano, der neben Gesang zahlreiche volkstümliche Instrumente studiert und sich mehr und mehr in die Volksmusiktraditionen Italiens und des Balkans vertieft hat. Sein Partner Gino Evangelista ist weitgehend Autodidakt und ein intimer Kenner von Instrumenten wie der sardischen Launedda, der portugiesischen Viola oder der Mandoline.
Die anrührende Melancholie des neapolitanischen Liedes erklärt sich aus den geschichtlichen Hintergründen, die zu seiner Hochblüte geführt haben, eine Zeit des politischen und wirtschaftlichen Unterganges: Anfang des 20. Jahrhunderts mussten sich die Neapolitaner damit abfinden, dass ihre Stadt von der Hauptstadt eines Königreiches zu einer Provinzstadt degradiert wurde und viele Bewohner aus wirtschaftlicher Not zur Emigration − vornehmlich in die USA − gezwungen waren. Diese trugen Ohrwürmer wie «O sole mio» in die ganze Welt. Je ärmer die Bevölkerung wurde, umso mehr beschwörten Sänger wie Gigli, Schipa oder Caruso die Schönheiten der Stadt.
Die grossen, altbekannten Melodien lässt das Duo della Sibilla (zum Glück) aus, die populärste Nummer ist eine in der Mitte des Rezitals eingeschobene, charmante Instrumentalversion von Rossinis «Danza». In seinem Konzert nimmt es aber die drei Hauptmotive der canzoni napoletane auf, das Meer als Symbol von Weggang und Rückkehr, den Mond als Begleiter von nächtlichen Festen und natürlich Liebeswerben und -klage. Es lohnt sich dabei unbedingt die Texte, die im Booklet zu der Silberscheibe im Original sowie in englischer, deutscher und französischer Übersetzung nebeneinander gestellt sind, mitzuverfolgen. Nicht nur, weil der urtümliche neapolitanische Dialekt selbst für Italiener teils schwer zu verstehen ist, sondern auch, weil die Sprachpoesie dem Vortrag der beiden Musiker eine wichtige Dimension hinzufügt. (wb)
Il duo della Sibilla: Mare, luna e d’intorni, The Golden Age of Neapolitan Song, 2007 Claves Records 50-2618, Pully (Switzerland).