13.07.2007 — EMI, eines der traditionsreichsten Labels der klassischen Musik, hat die durchaus gute Idee gehabt, einige überragende (um das inflationär benutzte Wort «historisch» hier mal zu vermeiden) Aufnahmen aus den goldenen Zeiten der Schallplatte neu verfügbar zu machen – unter dem Titel «Great Recordings of the Century» werden sie auf CD erneut unter die Leute gebracht, und für einmal kann man sich wirklich nicht daran stören, dass eine Plattenfirma ihren Backup-Katalog zum x-ten Mal in klingende Münze umzusetzen versucht. In der Reihe finden sich auch Einspielungen des leider viel zu früh verstorbenen rumänischen Pianisten Dinu Lipatti (1917-1950). Neben seinen vollendeten und künstlerisch konzessionslosen Interpretationen hat vor allem sein letztes Konzert Geschichte geschrieben: Im September 1950 musste er in Besançon wegen seiner fortgeschrittenen Hodgkinschen Krankheit – einem bösartigen Tumor des Lymphsystems – die Wiedergabe eines Chopin-Walzers unvollendet lassen. Mit einer schlichten Version des Bach-Chorals «Jesu bleibet meine Freude» verabschiedete er sich statt dessen spontan und für immer von seinem Publikum.
Die in den Londoner Abbey Road Studios digital aufbereiteten EMI-Aufnahmen sind ursprünglich 1937 in Paris, 1947 in London und – mitten im Zweiten Weltkrieg – 1943 im Radiostudio Bern eingespielt worden. Als Produzent amtete unter anderem Walter Legge, der spätere Ehemann Elisabeth Schwarzkopfs, EMIs prägende Produzentenpersönlichkeit. Sie umfassen Chopins dritte Klaviersonate (h-Moll), Liszts Petrarca-Sonett 104, Ravels «Alborada del gracioso», einige Brahms-Walzer (Op. 39), bei denen Lipatti die nicht minder legendäre Nadia Boulanger sekundiert, sowie Enescus dritte Klaviersonate (D-Dur).
Den historischen Dokumenten fehlt alles, was heutige Aufnahmen auszeichnet: Statt eines breiten und differenzierten Klangbildes mit subtilem Raumambiente handelt es sich um verrauschte, trockene Mono-Spuren, und dennoch ist ihnen eigenartige Plastizität, Durchhörbarkeit und Lebendigkeit eigen, die Lipattis charakteristischem Klavierstil zuzuschreiben sind. Seinem Stil ist ab und an ein Mangel an Dramatik vorgeworfen worden. Die unprätentiöse und jeglicher exhibitionistischen Virtuosität abschwörende Wiedergabe der Chopin-Sonate wirkt jedoch so vollendet, dass alle späteren Einspielungen durch Lipattis Kolleginnen und Kollegen überflüssig anmuten. Und Nadia Boulanger, bei welcher Lipatti einst Komposition studiert hat, wirkt in einer vergleichbar spröden Art wie eine Herzensgenossin.
Ebenfalls zugute kommt Lipattis präzises, transparentes und gleichzeitig von wacher Lebendigkeit geprägtes Spiel aber auch dem «Alborada» aus Ravels «Miroirs», das wie ein zu magischem Leben erwachtes mechanisches Glockenspiel wirkt und die Kabinettstücklein der heutigen Virtuosengeneration am Steinway-Flügel doch stark relativiert. (wb)
Dinu Lipatti: Chopin, Enescu, Ravel, Liszt, Brahms, EMI «Great Recordings of the Ccentury», 7243 5 67566 2 5.