09.03.2007 — Im Grunde genommen ist die sogenannte «Kadenz» ein funktionales Unding. Die Leerstelle gegen Ende des Kopfsatzes eines klassisch-romantischen Solokonzertes sollte dem Solisten ursprünglich die Gelegenheit bieten, seine Virtuosität frei improvisierend unter Beweis zu stellen. Nach Beethovens epochalen Konzerten wird dieses Stücklein Freiheit jedoch nicht mehr gewährt: Spätere Komponisten füllen die Lücke selber – wenn auch häufig im ursprünglichen Sinn der Virtuosenschau.
Aber auch die in den Beethoven-Konzerten noch vorhandene Leerstelle wurde nach der Zeit des Bonner Meisters nicht mehr improvisatorisch gefüllt. Vielmehr schrieben sich Solisten bis in die heutige Zeit ihre eigenen Varianten, die in Notenform separat käuflich sind. Mit der Umdeutung von einer interpretatorischen zu einer kompositorischen Aufgabe ist die Kadenz zu einer Art Struktur- und Ausdrucksstudie über Themen und Stimmung des jeweiligen Konzertes umfunktioniert worden. Nicht mehr der Virtuose (allein) steht damit im Vordergrund, sondern die Meditation über eine musikalische Form aus dem ästhetischen Verständnis späterer Epochen.
Zu Beethovens Klavierkonzert Nr. 3 existieren mehr als zwanzig solcher Kleinode, viele davon mit einer eigenen bewegten Geschichte. So galt eine der ältesten lange Zeit als Werk Brahms’, bis sich herausstellte, dass sie aufs Konto des Pianisten Ignaz Moscheles geht. Und auch der zu seinen Lebzeiten weitgehend ignorierte Klaviertitan Charles Valentin Alkan hat einen Beitrag geleistet – einer, der Solisten überbordende Kraftakte abverlangt, so als wolle sich der Verkannte mit Gewalt ins Bewusstsein der Welt rufen.
Anrührend ist aber auch die Kadenz Viktor Ullmanns. Sie entstand zwei Wochen vor dessen Tod im Konzentrationslager Auschwitz und legt Zeugnis ab von einem Bekenntnis zur deutschen Musik in einem absurd-unangemessenen Moment.
Der Pianist Michael Rische und das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin unter Marcus Bosch haben mit der vorliegenden CD den wunderbaren Einfall realisiert, dem Hörer das Konzert wahlweise mit sechs verschiedenen Kadenzen anzudienen. Neben den Einschüben aus den Federn von Moscheles, Alkan und Ullmann können mit Hilfe der Programmtaste eines CD-Spielers die Varianten von Beethoven und Erwin Schulhoff sowie eine solche von Michael Rische selber angesteuert werden.
Setzt die Kadenz Beethovens naturgemäss den Massstab, erweist sich Risches eigene Schöpfung mit Mitteln wie rhythmischen Brechungen – etwa einem Metrum aus drei Viertel- plus einer Sechszehntel-Note – und seriellen Verfahren als Reflexion der Avantgarde des 20.Jahrhunderts. Dies alles verblüffenderweise ohne aus der klassischen Totalität wegzubrechen.
Die Aufnahmen für die CD wurden im Februar 2005 in der Jesus-Christus-Kirche Berlin-Dahlem realisiert, und zwar von einem Team von Deutschlandradio Kultur. Rische spielt einen Fazioli, Modell F308. (wb)
Beethoven Piano Concert No. 3, Six Cadences by Beethoven, Moscheles/Brahms, Alkan, Schulhoff, Ullmann, Rische, Arte Nova Classics 82876 82586 2.