01.12.2006 — Jazzmusiker schleppen gerne wuchtige, meist ringgeheftete Wälzer mit sich herum, in denen sich zu jedem nur erdenklichen Standard der gehobenen populären Musik ein Notenblatt findet. Eine der beliebtesten dieser häufig «Fakebooks» genannten Sammlungen ist zum Great American Songbook geworden, welches das kanonische Song-Repertoire der amerikanischen Jazz- und Show-Literatur umfasst. Eine solche Sammlung ist auch aus dem deutschen Mittelalter überliefert: Das «Great Medieval Fakebook» ist unter dem Titel Codex Manesse bekanntgeworden, wird aber gerne auch als Grosse Heidelberger Liederhandschrift bezeichnet.
Den Namen verdankt die Kollektion aus 5240 Liedstrophen von insgesamt 140 verschiedenen Dichtern der Zürcher Familie Manesse. Der 1304 verstorbene Rüdiger Manesse und sein 1298 entschlafener Sohn Johannes waren passionierte Sammler mittelhochdeutscher Lyrik und legten vermutlich den Grundstein zu der Liederhandschrift. Und wie so häufig bei solchen «Best of»-Gesamtausgaben entstand der Codex zu einer Zeit, als die Hochblüte der darin konservierten Liedkultur ihren Höhepunkt bereits überschritten hatte.
Zum Codex Manesse haben die Capella Antiqua Bambergensis und die Kunsthistorikerin Birge Tetzner ein überaus ansprechend gestaltetes, informatives und unterhaltendes Album aus zwei CD inklusive Booklet geschaffen. Auf der einen CD findet sich ein Schulradio-taugliches Hörspiel, das die Entstehungsgeschichte der Liederhandschrift dokumentiert und allerlei Informatives zum Zeitgeist der Epoche und zu fünf der mit ihren Werken im Codex vertretenen Minnesänger erzählt. Ihre Auftritte haben da der Tannhäuser, Neidhart, Ulrich von Liechtenstein, Otto von Botenlauben und Walther von der Vogelweide.
Auf der zweiten CD spielt die Capella unter anderem Werke von Neidhart, Guillaume de Machaut, Walther von der Vogelweide sowie aus den Codices Montpellier und Montecassino. Schiebt man die Silberscheibe ins Laufwerk eines Computers, hat man überdies Zugriff auf eine multimediale Präsentation von Geschichte und Inhalten des Codex Manesse sowie Systematisches zu den fünf erwähnten Sängern, dem Buch selber und den mittelalterlichen Instrumenten, welche die Capella spielt.
Die Aufnahmen zu der CD sind dieses Jahr auf Schloss Wernsdorf realisiert worden, das Team, das für Inhalte, Hörspiel und Multimediateile verantwortlich zeichnet, könnte hochkarätiger nicht sein: Neben der Capella und der Kunsthistorikerin Tetzner sind die Schauspieler Christian «die Stimme» Brückner, Jan Burdinski, Wolfgang Grindemann und Harry Kühn zu hören. Ein massgebender wissenschaftlicher Beirat garantiert für historische Korrektheit. (wb)
Codex Manesse. Das Musik-Hörspiel zur Grossen Heidelberger Liederhandschrift. Von Birge Tetzner und der Capella Antiqua Bambergensis, gesprochen von Christian Brückner u.a., 2 CD, Cab Records CAB-10.