16.08.2013 — Vor ziemlich genau einem Jahr (am 20. August 2012) ist im Rahmen von Lucerne Festival der Zyklus «Nähe fern» von Wolfgang Rihm ‒ er selber bezeichnet ihn auch als seine «Luzerner Sinfonie» ‒ erstmals integral aufgeführt worden, nachdem die einzelnen Teile bereits zuvor im Rahmen der regulären Konzerte des Luzerner Sinfonieorchesters uraufgeführt worden sind. Es handelt sich um eine Auseinandersetzung Rihms mit dem sinfonischen Werk von Johannes Brahms, angeregt vom rührigen Luzerner Orchesterintendanten Numa Bischof Ullmann.
Der Wunsch nach einer kreativen Auseinandersetzung mit den Brahms-Sinfonien ist Rihm gekommen, nachdem er mit dem Zyklus in München mit Daniel Barenboim und der Staatskapelle Berlin konfrontiert worden ist. Mit «Nähe fern», einem Zitat aus einem Goethe-Gedicht, spinnt er in seinen eigenen Worten «den Gesprächsfaden weiter», den Brahms hinterlassen hat. Das Goethe-Gedicht («Dämmrung senkte sich von oben»), das sowohl Brahms als auch Rihm als Klavierlied vertont haben, ergänzt in orchestrierter Form die vier Sätze von «Nähe fern«, die je den Faden einer der vier Sinfonien von Brahms weiterspinnen.
Rihm ist so etwas wie der letzte deutsche Romantiker, empfindsam, hochgebildet, überaus belesen, geistreich im Gespräch und sehr komplex-hinterfragend und intellektuell in der Auseinandersetzung mit dem eigenen musikalischen Erbe. Seine Annäherung an Brahms erinnert etwas an diejenigen seines Berufskollegen Hans Zender, der sich mit «komponierten Interpretation» zwei andern grossen deutschen Tonschöpfern des 19. Jahrhunderts genähert hat, nämlich Schubert und Schumann (siehe Codex-flores-Rezension).
Einem von Hintergrundwissen unbelasteten naiven Höreindruck muten Rihms Reminiszenzen allerdings zugänglicher und weniger radikal an als Zenders akustische Reflektionen. Man könnte Rihms Spiegelungen an Bruchlinien einer Plattentektonik aus den Ästhetiken der Spätromantiker, Hans Werner Henzes und Alban Bergs verorten.
Der Rihm-Zyklus ist bereits im Juni 2012 im Luzerner Kultur- und Kongresszentrum, der Residenz des Orchesters, aufgenommen worden. Die Harmonia-Mundi-CD dokumentiert das Werk und festigt damit auch den Ruf des Luzerner Sinfonieorchesters als einem der originellsten und kundigsten Klangkörper seiner Art in der Schweiz. Die Aufführung in Luzern sind von der internationalen Presse sehr freundlich aufgenommen worden. (wb)
Wolfgang Rihm : Symphonie «Nähe fern», Luzerner Sinfonieorchester, James Gaffigan (Leitung), Harmonia Mundi, HMC 902153.