01.04.2011 — Die russische Sopranistin Anna Netrebko, erklärter Liebling des Publikums (zu Recht), hat Geschmack und offenbar auch ein sicheres Gespür für den eigenen Kräftehaushalt. Statt sich von ihrem grossen Erfolg zu ungesunden Extratouren unter Bühnenhochdruck verführen zu lassen, bricht sie eine Lanze für den Komponisten Giovanni Battista Pergolesi, dessen aussergewöhnliches «Stabat Mater» mittlerweile mehr als ein Geheimtipp ist.
Auch Claudio Abbado hat sich für das Werk auf der Schwelle zwischen Barock und Frühklassik stark gemacht und es zum Auftakt seines Pergolesi-Projektes mit dem Orchestra Mozart und den Solistinnen Rachel Harnisch und Sara Mingardo eingspielt. Aber auch für Anna Netrebko ist Pergolesi keine Neuentdeckung. Wie sie auf der DVD zur Aufnahme aus dem Festspielhaus Baden-Baden (realisiert im Sommer 2010) erklärt, debütierte sie einst mit einer Arie des Italieners in St. Petersburg zum Auftakt ihrer Karriere.
Die Einspielung mit dem Orchestra dell’Accademia nazionale di Santa Cecilia unter der Stabführung Antonio Pappanos und der italienischen Altistin Marianna Pizzolato ist auch nicht die einzige, mit der sie zur Zeit hausieren kann.
An den letzten Salzburger Festpielen musste sie einen Auftritt mit dem Werk zwar krankheitshalber absagen. Im April dieses Jahres gibt sie es dafür in Berlin und München zum besten (beide Konzerte sind selbstverständlich schon lange komplett ausverkauft), gemeinsam mit dem English Chamber Orchestra unter Paul Watkins und mit der Mezzosopranistin Kate Lindsey als Duettpartnerin.
Und offenbar sind, wie die Sopranistin auf der DVD weiter erklärt, auch Pläne fortgeschritten, es im Vatikan zu Gehör zu bringen. Mit Antonio Pappano hat Anna Netrebko überdies ein weiteres «Stabat Mater» eingespielt, nämlich dasjenige Rossinis (für EMI Classics).
Ein Vergleich der Einspielungen Pappanos und Abbados drängt sich auf, offenbart aber weniger Unterschiede, als man vermuten könnte – im Blindtest wäre es wohl schwierig, die beiden auf Anhieb auseinanderzuhalten. Anna Netrebko scheint stellenweise opernhafter zu agieren als Rachel Harnisch, dann aber auch wieder den schlichten Oratorienton zu finden. Das Orchestra Mozart mutet phasenweise rhythmisch akzentuierter und im Ton «holziger» als die Römer, die Differenzen sind aber eben nicht unbedingt ohrenfällig.
Beide Interpretationen bekräftigen aber, was alle Interpreten zum Ausdruck bringen: Die Musik des zur Zeit seiner Entstehung erst ein Vierteljahrhundert alten Komponisten (der kurz darauf viel zu früh starb) ist von in sich schlüssiger Innigkeit und Schönheit. Sie ist singuläres Zeugnis der Epoche und hat einen festen Platz im modernen Konzertrepertoire mehr als verdient. (wb)
Pergolesi: Stabat Mater, Nel chiuso centro, Sinfonia Li prodigi della divina grazia nella conversione e morte di san Guglielmo d’Aquitania, Questo è il piano, questo è il rio. Anna Netrebko (sopran), Marianna Pizzolato (Alt), Orchestra dell’Accademia di Santa Cecilia, Roma, Antonio Pappano (Leitung). Deutsche Grammohponi/Universal Best.-Nr. 477 8857