07.06.2013 — In einem klugen Buch zur Melodie beschreibt der renommierte Musiktheoretiker Diether de la Motte die Eigenheiten des Operettenstils: Tief atme der Opernsänger ein, der durch seine Gewalt beeindrucke und mitreisse, so de la Motte. Ganz anders der Operettensänger: leicht locker, beweglich, spritzig. Atmen scheine unnötig, blitzartig werfe er seine Töne in die Luft. Der Melodienanalyst findet gar in der Statistik Kennzeichen der Gattung. Töne mittlerer Dauer gebe es kaum, dafür ein «Hin und Her zwischen langgehaltenen und brillant vorüberhuschenden Tönen». Piotr Beczalas Reverenz an Richard Tauber mutet wie eine Beispielsammlung für diese Thesen an. Sie ist aber mehr als das. Sie macht offensichtlich, dass sich hinter vordergründiger Leichtigkeit und zur Schau gestellter Idylle Abgründe auftun, die überspielt werden sollen. Sentimentale Schwelgerei verschmilzt unversehens mit pechschwarzer Melancholie zu einer Einheit, die schaudern lässt.
Der Österreicher Tauber wurde 1933 von Nazischergen in Berlin beschimpft, blieb aber dennoch in Deutschland, um seine eigene Operette mit dem sinnigen Titel «Der singende Traum» zu realisieren (nach dem Anschluss Österreichs migrierte er allerdings nach Grossbritannien). Das Schicksal des Tenors zeigt eben eindrücklich, dass es zwei Formen der Sentimentalität gibt: eine oberflächliche der selbstverliebten Ahnungslosigkeit und eine, die als Mittel der trotzigen Wirklichkeitsverweigerung Tragik nur schlecht maskiert und damit doppelt erschüttern und tief loten kann.
Diese Vielschichtigkeit der Operettenwelt ist durch die ganze CD hindurch spürbar. Da wird kein nostalgisches Fest der Evergreens gefeiert, sondern ein komplexer Stil in seinen Facetten ausgeleuchtet. Ein veritabler Coup gelingt zudem mit einem Duett Beczalas mit Tauber, dem eine Aufnahme Taubers aus dem Jahr 1934 zugrundeliegt. Als Natalie Cole 1991 für das Album «Unforgettable» ihren Gesang über eine Aufnahme ihres verstorbenen Vaters legte und sozusagen posthum mit ihm duettierte, gab’s in den Medien noch heftige Diskussionen über die Legitimität eines solchen Vorgehens. Mittlerweile scheint es zur Routine geworden, ohne dass das Problematische an dem Dialog über den Styx hinweg noch im Bewusstsein wäre.
Auf dem Album «Mein ganzes Herz» wird der Komplexität des Arrangements Rechnung getragen: Beczala tut nicht so, als ob er mit Tauber im Studio stünde und gemeinsam singen würde. Die Duopartie ist formal etwas abgesetzt und wirkt tatsächlich wie ein Echo aus einer andern Welt, weltgeschichtlich oder mit Blick auf individuelle Lebenszyklen. Das Album erhält dadurch eine weitere Dimension der Verschränkung zwischen Ausgelassenheit und Tragik, zwischen Eros und Thanatos. (wb)
Mein ganzes Herz. Richard Taubers grösste Erfolge. Piotr Beczala, Royal Philharmonic Orchestra, Lukasz Borowicz (Leitung). Deutsche Grammophon/Universal, Best.-Nr. 479 1399.