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Chailly dirigiert Bachs Klavierkonzerte

02.09.2011 — Sogenannt «historisch-informiertes» Musizieren ist heute eine weitaus komplexere Sache also noch vor zwanzig, dreissig Jahren, als die Auseinandersetzung damit, wie Alte Musik zu ihrer Zeit wohl geklungen haben mochte, in Schwung kam. Damals hatte die Alte-Musik-Bewegung etwas Rekonstruktives – es mussten die Instrumente der Zeit sein, die Spieltechniken der Zeit, die Phrasierungen der Zeit, Verzierungen der Zeit und so weiter. Bach auf dem modernen Konzertflügel wurde als Anachronismus verstanden oder gar als Sakrileg betrachtet. Heute ist die Auseinandersetzung mit den Ästhetiken historischer Epochen Teil eines allgemeinen interpretatorischen Werkzeugkastens, mit dem nicht mehr primär der historische Klang rekonstruiert werden soll, sondern die innere Stimmigkeit von Ausdeutungen hinterfragt wird.

So können heute die Bach-Klavierkonzerte wie selbstverständlich auch auf dem modernen Flügel und mit einem modernen Orchesterapparat gegeben werden. Die Herausforderung bleibt dabei, mit diesem Instrumentarium Bachs Intentionen auszuhorchen. Will heissen: Man studiere die Partitur und frage sich, wie deren Anweisungen sinnerfüllend mit dem verfügbaren Klangkörper umgesetzt werden können.

Das Gewandhausorchester Leipzig unter dem Dirigenten Riccardo Chailly und der iranische Pianist Ramin Bahrami tun dies etwa, indem sie auf Pedaleinsatz beim Klavier verzichten und bei den Streichern auf Vibrato. Oder mithilfe des Nachbaus von Gegentechniken wie Spiccati, die Bachs Klangabsichten in der Partitur entsprechen, ohne sie in einer Art «Fälschung» als authentische Praxis der Zeit zu verkaufen.

Das Resultat ist nicht eine möglichst zeitgetreue Kopie dessen, was zu Bachs Zeiten erklungen sein mag, sondern eine Art Projektion, etwa dem entsprechend was geschieht, wenn historische Bauten so renoviert werden, dass sie ihre Seele behalten, aber dennoch modernen Nutzungsanforderungen gerecht werden. Möglicherweise ist dieses Verfahren, das die Rekonstruktion transparent macht und nicht die Wiederauferstehung des Originals behauptet, die authentischere Art, sich mit der Praxis der Zeit zu beschäftigen.

Der Höreindruck bestätigt, dass das Verfahren stimmig ist: Da wird elegant, transparent und in den Details differenziert musiziert, so dass nicht der Eindruck entsteht, die Transformation sei mit einem Verlust an ästhetischer Substanz verbunden. Bachs musikalischer Kosmos erschliesst sich genauso wie in der historischen Rekonstruktion einer «Authentizität», die im Grunde genommen auch nie sichergestellt werden kann. (wb)

Bach: 5 Klavierkonzerte. Ramin Bahrami (Klavier), Gewandhausorchester Leipzig, Riccardo Chailly (Leitung), Decca/Universal, Best.-Nr. 478 2956.

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