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Dmitri Schostakowitschs «Orango»-Fragment

22.06.2012 — Die Musikgeschichte ist mehr oder weniger geschrieben, in der Historischen Musikwissenschaft wird vor dem Lichterlöschen noch etwas an Gesamtausgaben, Katalogsarbeiten und auch noch an irgendwo ausgegrabenen Kleinmeistern gewerkelt. Was an «bisher unbekannten Werken» grosser Meister noch identifiziert wird, sind kleine Gelegenheitsarbeiten und Skizzen, die zu medialen Ereignissen hochstilisiert werden.

Es gibt Ausnahmen: Der Entwurf Schostakowitsch aus den dramatischen 1930er-Jahren Russlands zu einer satirischen Oper bricht mit der Regel. Seine Wiederentdeckung und Aufbereitung zur öffentlichen Präsentation ist ein Ereignis.

Aufgefunden worden ist das Notenmaterial zu «Orango» 2006 von der Archivarin Olga Digonskaïa im Moskauer Schostakowitsch-Archiv. Es handelt sich um Arbeiten an einem Musiktheater nach dem Libretto des Science-fiction-Autors Alexei Tolstoi (eines entfernten Verwandten des ungleich bekannteren Leo Tolstois). In Auftrag gegeben wurde es ursprünglich vom Bolschoi Theater als Beitrag zu den Feiern von 1932 zum 15. Jahrestag der Oktoberrevolution.

Es war die Zeit kurz vor den dunklen Jahren des stalinistischen Terror-Regimes, die den Künstlern des Landes viele experimentelle Freiheiten liess. Das «Orango»-Projekt knüpfte denn auch an die Arbeiten der russischen Avantgarde der 1920er-Jahre an, an die Ideen Meyerholds, Majakowskis oder Eisensteins.

Orango ist das erschreckende Produkt eines genetischen Experiments, der Kreuzung eines Wissenschaftlers mit einem Orang-Utan. Der Zwitter nimmt als Soldat am Ersten Weltkrieg teil, wird in Paris Geschäftsmann und schliesslich kapitalistischer Medienmogul. Er wird verraten, an einen sowjetischen Zirkus verkauft und nach Moskau verschleppt.

Im Prolog, der hier rekonstruiert ist, wird Orango im Rahmen einer öffentlichen Show vorgeführt, und zwar in einer Art, die wir aus heutigen Fernsehspektakeln durchaus zu kennen glauben. Er versucht sich, an einer Frau in einer ausländischen Gästegruppe zu vergreifen und wird dann vom skrupellosen Moderator der Show buchstäblich «zum Affen gemacht».

Die Szene ist an Bösartigkeit und Zynismus fast nicht zu überbieten, die Musik, die Schostakowitsch dazu geschrieben hat, ist denn auch pompös, kriegerisch, hart und energetisch. Die Witwe Schostakowitsch hat den Musikwissenschaftler Gerard McBurney gebeten, den 13-seitigen Klavierauszug zu orchestrierern. Dieser hat tief in die Trickkiste Schostakowitschs, wie sie zur Zeit der Entstehung gefüllt war, gegriffen.

Unter Stabführung Esa-Pekka Salonens hat das Los Angeles Philharmonic Orchestra das Werk im Dezember 2011 in der Disney Concert Hall erstmals aufgeführt, ergänzt um eine Wiedergabe der kurze Zeit später entstandenen vierten Sinfonie des Komponisten. Peter Sellars hat «Orango» für Los Angeles überdies szenisch eingerichtet.

Der «Orango»-Prolog ist bitter-komisch, umwerfend musikantisch und sehr verstörend. Nicht auszumalen, was aus dem Werk geworden wäre, hätte es Schostakowitsch zu Ende führen können. Einmal mehr ahnen wir, welche kreative Potenz im Russland der Stalinzeit absurdesten Affentheatern geopfert worden ist. (wb)

Schostakowitsch: Orango Prologue. World Premiere Recording. Symphony No. 4. Los Angeles Philharmonic, Esa-Pekka Salonen. Deutsche Grammophon/Universal, Best.-Nr. 479 0249.

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