09.11.2012 — Rezensenten mögen CD mit Ecken und Kanten, weil’s dazu etwas zu sagen gibt. Und zur jüngsten Produktion der französischen Dirigentin und Kontra-Altistin Nathalie Stutzmann gibt’s einiges zu sagen. Die Produktion ist nämlich in mehrfacher Hinsicht ungewöhnlich: Zum einen amtet da eine Sängerin gleich auch noch als Dirigentin. Das ist man sich sonst eher von Pianisten oder Geigerinnen gewohnt. Zum andern wird eine virtuelle Bach-Kantate – natürlich zugeschnitten auf die Bedürfnisse einer tiefen Frauenstimme – präsentiert.
Man kann das als moderne Form des barocken «Parodie»- oder Pasticcio-Verfahrens betrachten: Sätze aus andern Kantaten, der Matthäus-Passion und dem Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach werden zu einem Zyklus mit Kantatencharakter zusammengebunden.
Nicht nur das Was ist aber erwähnenswert, auch das Wie ist es: Schon die ersten Nummern zeigen, dass da kein Klangbild zelebriert wird, das dem Gängigen verpflichtet ist. Es wird einerseits beinahe hektisch und klanglich kalorienreich musiziert, aber auch mit einem eigenen, sinnlich-schweren akustischen Parfüm, das aufhorchen lässt. Das Metzer Orchester – rund 50 Mitwirkende – wirkt dunkel und teilweise opak.
Damit reproduziert es erklärterweise den schweren, von der Tiefe her bestimmenden Klang zentraldeutschen, namentlich in Tübingen gepflegten Musizierens, der sich auch im Orgelbau niedergeschlagen hat. Er verfolgt, schreibt der Musikwissenschaftler Gilles Cantagrel im Booklet, ein Ideal der «Gravität», im Gegensatz zum grellbunten norddeutschen Klang.
Auch die Stimme ist in der Tiefe angesiedelt. Stutzmanns sinnliches Timbre irritiert (in positiver Weise) im Kontext einer Bach-Kantate etwas, weil es die üblichen Verhältnisse auf den Kopf stellt: In der Regel werden in Bachs sakralen Werken die erotischen Nebenklänge dadurch getilgt, dass unschuldige Knaben die hohen Partien singen, der «Cantate imaginaire» verleiht die tiefe Stimme der Kontra-Altistin einen beinahe lasziven Charakter, selbst in rein spirituell-kontemplativen Partien.
Opus 55, das Orchester – eine Schöpfung Stutzmannns – ist noch sehr jung. Es ist 2009 ins Leben gerufen worden, als typisches Projektensemble mit wechselnden Besetzungen. Es wird sich keinswegs auf barocke Musik beschränken, sondern 2014 auch Werke Tschaikowskys und Schönbergs spielen. Vorerst aber reiht es sich ein in eine Galerie von Künstlerensembles vom Schlage von John Eliot Gardiners Orchestre Revolutionnaire et Romantique, über die ihre Gründer umfassend Kontrolle haben. Das gibt Profil und belebt das Musikleben. (wb)
Bach: Une Cantate imaginaire. Nathalie Stutzmann (Kontra-Alt und Leitung), Orfeo 55. Deutsche Grammophon/Universal, Best.-Nr. 481 0062