30.04.2010 — Nimmt einen ja ziemlich schnell wunder, was für ein Instrument Freire hier spielt. Nach dem üblichen schlank-brillanten Steinway klingt das nicht. Chopins Nocturnes entfalten sich da in einem ungewöhnlich plastischen und warmen Kosmos, und oft hat man den Eindruck, die linke, abgedämpfte Hand spiele – völlig im Einklang mit dem Notentext – einen anderen Flügel als die präzise ausziselierende Rechte. Die offiziellen Webseiten von Künstler und Label geben fast nichts her: Auf der Rückseite des Booklets findet sich aber eine Foto, die Freire ordentlich drapiert in einer (Orchester-)partitur blätternd und unzweifelhaft an einem Steinwayflügel sitzend zeigt.
Da muss man davon ausgehen, dass der Pianist und der Aufnahmeleiter Dominic Fyfe ganze Arbeit geleistet haben (in den Credits ist’s denn auch diskret versteckt: Die Aufnahme ist kurz vor Weihnachten 2009 im Liverpooler The Friary realisiert worden, einer ehemaligen Kirche, die vom Royal Liverpool Philharmonic Orchestra als Aufnahmeraum genutzt wird – auf einem «Piano by Steinway & Sons»). Freires subtiler, weicher und melancholischer Anschlag mutet auch wie ein Echo des sanften und verführerischen Klangkosmos an, der den Nationalstil Brasiliens prägt, aber das ist möglicherweise eine klischeebehaftete Überinterpretation seiner kulturellen Wurzeln.
Freires (zweite) Einspielung von Chopins Nocturnes ist zweifelsohne ein Höhepunkt im laufenden Chopin-Jahr, das an Chopin-Releases nun wahrlich nicht arm ist. Jede Note ist in dieser subtilen und äusserst raffinierten Girlandenmusik hier mit Bedacht gesetzt und weckt Aufmerksamkeit und Emotionen. Gelassenheit und technische Souveränität vereinen sich hier mit abgründiger und erdenschwerer Leichtigkeit, aber auch mit Respekt vor dem satztechnischen Genie des Komponisten, so als ob auf dem modernen Steinway die Erinnerungen an die akustischen Landschaften wachgehalten werden sollten, die der polnische Klangmagier anno dazumal im Salon selber seinem Pleyel entlockte.
Die erste Einspielung der Nocturnes realisierte Freire übrigens für sein erstes wichtiges Label Telarc, bevor er sich für längere Zeit vom Konzertbetrieb zurückzog. Die drei Dutzend Jahre alte Aufnahme (1974/76) ist vom Reprint-Label Apex, das legendäre Teldec- und Erato-Titel neu auflegt, vor wenigen Jahren wieder verfügbar gemacht worden. Vergleiche sind also möglich. (wb)
Nelson Freire: Chopin, The Nocturnes, Doppel-CD, Decca/Universal, Best.-Nr. 478 2182.