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Gershwin-Klassiker im Jazzband-Format

16.04.2010 — Darf man das? Die Frage stellte sich Max Brod, als er gegen den Willen Kafkas dessen Schriften veröffentlichte; sie stellt sich zur Zeit auch mit Blick auf die Veröffentlichung von Max Frischs Fragmenten zu einem dritten Tagebuch. Das sind zwei von zahlreichen Beispielen, in denen Publikationsverbote oder ein Bann von Künstlern ihren eigenen Werken gegenüber nach deren Tod ignoriert worden sind oder werden. Ein solches – ebenfalls ein tragisches – ist auch die Geschichte der Jazzband-Version von Gershwins «Piano Concerto in F».

Gershwins 1924 entstandene «Rhapsody in Blue» wurde noch vom legendären Arrangeur Ferdé Grofé (siehe auch diese Rezension) erstellt, weil Gershwin von der Aufgabe überfordert war. Als Grofé auch eine Jazzband-Version des 1928 erstellten Klavierkonzertes ausarbeitete, war der Komponist jedoch verstimmt, glaubte er doch, die Kunst der Instrumentation nun im Griff zu haben. Testamentarisch erliess er ein Verbot, die Grofé-Variante aufzunehmen.

Über dieses Verbot setzt man sich mittlerweile hinweg, und das ist gut so, denn die Jazzband-Version des amerikanischen Klassikers ist interessanter und stimmiger als Gershwins eigene sinfonische Variante. Sie klingt ein wenig, als hätten Scott Bradley, der die legendäre Musik zu den «Tom und Jerry»-Trickfilmen beigesteuert hat, und Kurt Weill, der Komponist der «Dreigroschenoper», sich gemeinsam über die Partitur gebeugt. Grofés Gershwin groovt ganz gewaltig.

Die amerikanische Dirigentin Marin Alsop hat die von Gershwin mit einem Bann belegte Partitur mit dem von ihr selber gegründeten Concordia Orchestra bereits vor zwanzig Jahren eingespielt. Mit diesem Ensemble hat sie sich auch sonst um die Musik Gershwins verdient gemacht: Die erste Schallplatte des Ensembles überhaupt war eine Ersteinspielung von dessen Kammeroper «Blue Monday».

An die kernigen Grofé-Versionen der Klassiker und der von Einfallsreichtum nur so strotzenden «I Got Rhythm»-Variationen in Gershwins eigener Orchestrierung hat sie sich nun gemeinsam mit dem Pianisten Jean-Yves Thibaudet und dem Baltimore Symphony Orchestra gemacht. Der CD liegen Live-Auftritte vom 12., 13. und 15. November 2009 in der Joseph Meyerhoff Symphony Hall, der Heimstätte des Orchesters, zugrunde.

Weshalb muss der Streit um die Authentizität der Jazzband- oder Klassikversion des Konzertes in F auch als tragisch bezeichnet werden? Weil er lebhaft illustriert, wie Gershwin mit seiner Musik, die sich um Gernegrenzen nicht scherte, zwischen Stuhl und Bank fiel und sich selber verunsichern liess, und weil sie überdies vor Augen führt, wie zweispältig sich die Amerikaner selber gegenüber dieser aus heutiger Perspektive uramerikanisch und genialisch anmutenden Musik verhalten haben.

Der Song «I Got Rhythm» ist im Jazz zu einer Art Urmuster für Improvisationen geworden, das Great American Songbook platzt fast vor Gershwin-Titeln, die Oper «Porgy and Bess» hat den Status einer Art Nationaloper, welche die Genregrenzen in Richtung Musical und Gospel sprengt. Als Jean-Yves Thibaudet das «Piano Concerto in F» vor fünf Jahren (!) mit dem Boston Symphony Orchestra unter der Leitung von James Levine spielte, war dies aber das erste Mal, dass dieses in der Neuen Welt in ein Abonnementskonzert Eingang fand.

Thibaudet ist schon deshalb der logische Pianist für eine CD, wie sie nun von Decca vorgelegt wird. Seine von Spielwitz und Energie strotzende Interpretation fügt sich mit der Arbeit des Orchesters zu einem stimmigen Ganzen. Da entfalten sich auch die Qualitäten der Dirigentin, der in Europa ab und zu zu Unrecht eine konventionell-einfallslose Art der Orchesterleitung nachgesagt wird. Und neben den Solisten Steven Barta an der Klarinette (natürlich vor allem mit der berühmten Einleitung zur Rhapsodie) und dem Trompeter Andrew Balio sorgt vor allem auch die Saxophon-Section für bemerkenswerte Akzente. (wb)

Thibaudet plays Gershwin: Klavierkonzert in F (arr. Grofé), Rhapsodie in Blue (arr. Grofé), I Got Rhythm-Variationen (Orignalmanuskript), Jean-Yves Thibaudet (Klavier), Baltimore Symphony Orchestra, Marin Alsop (Leitung), Decca/Universal, Best.Nr.: 478 2189.

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