19.11.2010 — Hélène Grimaud irritiert. Den Satz kann man ruhig ohne Adjektive, Objekte oder andere Eingrenzungen stehen lassen. Und er ist durchaus programmatisch zu verstehen: Ihre CD-Projekte fallen auf, weil sie unkonventionelle Programme ins Polycarbonat brennen und zum Hören und Denken anregen. Die Gefahr des Scheiterns nimmt die Französin dabei offenbar fast mutwillig in Kauf. Das war so bei ihrer Bach-CD (siehe Codex-flores-Rezension), und so ist es im Fall von «Resonances»: Eine Mozart-, die Alban-Berg- und Liszts h-Moll-Sonate, abgeschlossen von Bartóks Rumänischen Volkstänzen.
Die Werke gruppieren sich laut Grimauds eigenen Aussagen im Booklet um Bergs op.1, dem sie bereits als Kind begegnete und dessen Noten ihr Lehrer Pierre Barbizet mit «vielen bunten Anmerkungen und einer liebevollen ‚Inhaltsangabe’ versehen hatte».
In einem interessanten Interview mit dem deutschen «Tagesspiegel» erklärt Hélène Grimaud, Mozarts a-Moll-Sonate KV 310 spreche über «Schmerz, Verzweiflung und Depression» und alle die auf der CD präsentierten Stücke lebten von einer enormen Atemlosigkeit und Intensität.
Im Widerspruch zur langen, im Booklet skizzierten Vorgeschichte ihrer Auseinandersetzung mit der Berg-Sonate erklärt sie im gleichen Interview überdies: Sie spiele, mit Ausnahme der Bach-Chaconne, immer alle Solowerke, die sie aufnehme, im Studio zum ersten Mal. Dadurch seien sie für sie «rein und durch keine Erfahrung und keine Vergleiche befleckt.»
Das irritiert nun doppelt: Zu einen ist angesichts der Widersprüche ihrer Behauptungen schwer nachzuvollziehen, wie sie das alles wirklich meint, zum andern müsste man annehmen, dass derart kantige Programme wie diejenigen der Bach-CD oder der nun vorliegenden eine längere Zeit der Reflektion und Erforschung der Zusammenhänge erforderten.
Hilft da die Hörerfahrung weiter? Die Mozart-Sonate beginnt Grimaud fahrig, ja nervös und unentschlossen, im Con-brio-Gestus und nicht maestoso, wie es der Salzburger Meister eigentlich vorschreibt. Fast hat man den Stab über das Prima-vista-Spiel (das es laut Grimaud ja sein müsste) gebrochen, da überrascht die Französin im zweiten Satz mit elegantem Charme und feiner Linienausdeutung.
Bergs Jugendwerk – laut Adorno ein «Meisterwerk des kleinsten Übergangs» – nimmt sie mit Tiefe suggerierendem Pathos in Angriff, wo die Hyperexpressivität doch im Werk selber unter einer feinen, fast harmlosen Oberfläche von selber durchschimmern müsste. Der Berg-Schüler Adorno gibt ihr ja recht in ihrer Einschätzung, es handle sich auch hier um ein intensives und hoch emotionales Stück Musik. Berg liebte es aber, seine Wahrheiten in die Werke hineinzugeheimnissen, wie er das selber nannte, und nicht nackt auszustellen.
Zur Einheit finden die unruhige, impulsive Energie in Grimauds Spiel und der Werksinn in Liszt narrativer bis grotesker h-Moll-Sonate. Würde man dieses Scharnierwerk zwischen Mozarts Klassik und Bergs heraufdämmernder Atonalität als Kristallisationspunkt des Programmes definieren, ergäbe sich ein schlüssigeres Konzept, als es Grimaud selber vorschwebte.
Bartóks Rumänische Tänze bleiben zwar ein Fremdkörper in dem Reigen nicht gar so seliger Geister, unter Grimauds Händen werden sie aber zum atemraubenden Virtuosen-Kabinett. In «Buciumeana» gibt die Pianistin gar noch einen drauf: Sie wiederholt den Tanz, lädt die Melodie dabei mit einer Oktave auf und verschafft dem Zyklus damit einen perfekt positionierten Höhepunkt. (wb)
Hélène Grimaud: Resonances, Mozart: Sonate a-Moll KV 310, Berg: Sonate op. 1, Liszt h-Moll-Sonate S 178, Bartók: Rumänische Volkstänze BB 68. Deutsche Grammophon/Universal Best.-Nr. 477 8766