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Julia Fischer kapriziert sich auf Paganini

10.09.2010 — In der Carl-Flesch-Ausgabe von Niccolò Paganinis 24 Capricen für Solovioline gibt’s eine Stelle, wo als Fingersatz zwei übereinanderstehende Nullen stehen. In einer Fussnote wird erklärt, die angegebene Oktave müsse an dieser Stelle auf der Saite gar nicht gegriffen werden, «da in dem schnellen Tempo die leere Saite eine Oktave höher klingt». Von diesem Kaliber sind die exorbitant schweren Charakterstücklein: Da wird der Klang nicht bloss in seine Einzelteile zerlegt; die fingerbrecherischen Kapriolen setzen sogar die Physik der Saiten ausser Kraft – Paganini hat mit seinem op.1 gleich so etwas wie die Quantentheorie des Geigenspielens entworfen.

Da kann ein Geiger effektvoll mit dem Bogen rumfuchteln und seine Finger wegen Übernutzung der Gefahr früher Arthrose aussetzen. Das alleine macht’s aber noch lange nicht aus. Die Musik tönt mit ihren Klangflächen, Texturen und Mikroverzierungen darüberhinaus verblüffend modern. Sie drängte sich für eine zeitgenössische Orchestrierungs-Studie deshalb geradezu auf.

Man fragt sich, weshalb noch keiner draufgekommen ist. So wie Schönberg und Webern Bach-Werke instrumentierend zerlegt haben, müsste ein Komponist des 21. Jahrhunderts diese Kleinode Paganinis neu ausleuchten können, vielleicht in der Art von Hans Zenders «komponierter Interpretation», in der alle die Nebengeräusche von Bogen und Fingern auf dem Griffbrett der Violine gleich mitvertont würden.

Vor kurzem hat Thomas Zehetmair die Paganini-Capricen für das Münchner Edellabel ECM eingespielt. Ist es Zufall, dass diese Art der intelligenten Virtuosität rund um die bayerische Landeshauptstadt Anziehungskraft entwickelt? Der Lebensmittelpunkt von Zehetmairs Kollegin Julia Fischer, die es ihm nachtut, ist ja der nahegelegene Starnberger See. Zehetmair spielt die Capricen allerdings impulsiver und persönlicher als Fischer, die selbst in einem «Amoroso» oder «Posato» nie das beherrschte Mass verliert und ins Schwelgerische abgleitet und sich auch keine Nachlässigkeiten in Strich und Tongebung erlaubt.

Interessanterweise faszinieren an ihrem Spiel aber im Grunde genommen nicht die wilden Noten-Kaskaden, sondern die ruhenden Töne, die im Tonsatz immer wieder eingestreut sind und in den Oktav-Verdoppelungs-Studien besonders eindringlich wirken. Da entfaltet die Geigerin eine unglaubliche Fülle und Fantasie an Mikrovariationen und -durchformungen, die sie als grosse Meisterin ihres Faches ausweisen.

Der Perfektionismus ihres Spiels kommt nicht von ungefähr; er ist ja nicht einmal bloss auf die Geige beschränkt. Dass sie auch als Pianistin Furore gemacht hätte, zeigt die DVD mit einem Video-Mitschnitt eines Neujahrskonzertes, dass sie mit der brillant aufspielenden Jungen Deutschen Philharmonie unter der Leitung von Matthias Pintscher 2008 in der Alten Oper Frankfurt gegeben hat. Da spielt sie (auf der Geige) zum einen Saint-Saëns drittes Violinkonzert und (auf dem Flügel) zum andern Griegs nicht minder virtuoses a-Moll-Klavierkonzert.

Auf der DVD findet sich auch eine sehenswerte, rund 50-minütige Dokumentation, die etwas von der Persönlichkeit Julia Fischers spüren lässt. Sie wirkt da fast etwas wie ein Gegenstück zur japanisch-amerikanischen Kollegin Midori, die ihre Karriere ebenfalls bereits im Kindesalter begonnen hat und wie die Deutsche zeitlebens den unzähmbaren Willen zu einer beinahe übermenschlichen Vollendung ihrer Kunst gezeigt hat.

Anders als die zierliche Japanerin, die am eigenen Anspruch fast zerbrochen ist und sich jahrelang in typisch weiblich-pathologische Formen der Selbstzerstörung geflüchtet hat, scheint Julia Fischer aber bajuwarisch-geerdet. Die leichte Melancholie, welche die ältere asiatische Kollegin auch heute noch umweht, ist ihr völlig fremd.

Die Dokumentation lässt ahnen, in welche Richtung sich Julia Fischer weiterentwickeln könnte. Sie zeigt sie unter anderem beim Unterrichten, wo sie sich als resolute Pädagogin mit einem leichten Anflug zur Ungeduld outet – die Art Respektsperson in der Musikausbildung, die sich – je älter sie wird – mit ihrer fordernden und scheinbar unerreichbaren Autorität mehr und mehr zum Trauma des Nachwuchses auswachsen kann.

Dabei äussert sie auch originelle und überraschende Einsichten in die kindliche Seele. Kinder, die musikalisch seien, merkt sie da an, hätten die Tendenz, immer schneller zu werden, weil sie gar nicht anders könnten, als sich in die Musik reinzusteigern – tröstlich für alle oft gescholtenen Zappel-Philippe und Pippi Langstrumpfs ist das alleweil. (wb)

Julia Fischer: Paganini, 24 Caprices. 1 CD, Decca/Universal, Best.-Nr. 478 2274.
Julia Fischer: Violin & Piano, Saint-Saëns: 3.Violinkonzert, Grieg Klavierkonzert a-Moll, Junge Deutsche Philharmonie, Matthias Pintscher (Leitung), Interview mit Julia Fischer, 1 DVD, Decca/Universal, Best.-Nr. 074 3344.

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