05.03.2010 — Mit dem Dirigenten Alberto Veronesi hat der Tenor Placido Domingo bereits Alternativfassungen von Arien aus der Feder Puccinis eingespielt (siehe Rezension). Auch mit Blick auf Leoncavallo macht sich das Duo für Ungewohntes stark: den Liederzyklus «La Nuit de mai» nach einer Dichtung Alfred de Mussets. Das sehr selten gespielte Werk vertont einen Dialog eines Dichters mit seiner Muse, wobei der Dichter von einem Tenor gesungen wird, die Partien der Muse (die im Text de Mussets deutlich mehr Raum einnehmen) werden allerdings bloss vom Orchester paraphrasiert. Es handelt sich also um eine Art «Grand poème symphonique», vergleichbar der Faust-Symphonie von Liszt, allerdings ohne Chor.
Geschrieben hat Leoncavallo «La Nuit de mai» in den 1880er-Jahren in Paris, also noch, bevor er sich seinen grossen erfolgreichen Opern zuwandte. Vom Pariser Publikum wurde es nach Angaben Leoncavallos selber gut aufgenommen. Ausgehend von dem Erfolg suchte er eine Zusammenarbeit mit dem Théâtre du Châtelet. Eine solche kam allerdings wegen eines zu dieser Zeit aufflammenden Zollkrieges zwischen Frankreich und Italien nicht zustande.
Das Stück, das Leoncavallo als geschickten, nicht bloss auf die grosse Operngeste fixierten Meister der Instrumentierung zeigt, wird auf der hier vorliegenden CD zu einer Art Schaulaufen für das Orchestra del Teatro Communale di Bologna, das dabei seine ganze Klangsinnlichkeit entfalten kann. Die Aufgabe, ein Klangkosmos zwischen Oper und Sinfonik, entspricht dem Klangkörper, der in seiner Heimatstadt sowohl Theater- als auch Konzertaufgaben erfüllt. Domingo fügt sich als Orchestersolist unprätentiös und mit hoher Textverständlichkeit ins Kollektiv.
Der Überzeugungskraft der Tondichtung scheint die Deutsche Grammophon allerdings nicht ganz getraut zu haben. Sie hat deshalb sozusagen auf der virtuellen B-Seite der Scherbe zum hochprozentigen Kaufanreiz gegriffen, nämlich der Kombination Placido Domingos mit Lang Lang als Liedbegleiter. Die beiden interpretieren fünf kürzere Lieder (eines davon auf einen von Victor Hugo inspirierten Text von Leoncavallo selber), der chinesische Pianist schliesst das Rezital solo mit zwei gefälligen Salonpiècen (einer Barcarolle und einem Walzer) ab.
Die Frage, ob sich aus dem Einstand des Hypervirtuosen als Liedbegleiter bei der Deutschen Grammophon mehr entwickelt hätte, erübrigt sich, da er das Label gewechselt hat. Bei seinem neuen Partner Sony Classical dürfte die Liedbegleitung mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht zu einem Schwerpunkt seines Schaffens werden. (wb)
Leoncavallo: La Nuit de mai, Orchestra del Teatro Communale di Bologna, Alberto Veronesi (Leitung) Plàcido Domingo (Tenor), Lang Lang (Klavier). Deutsche Grammophon, Best.-Nr. 477 6633.