28.01.2011 — Das beginnt (im «Rheinlegendchen») mit einem schon fast provokativ übergenüsslichen Portamento in der Violine: Der mahlersche Wiener Ton aus Schwelgen, Ironisieren, subtiler Theatralik und Verfall, der da beschwört wird, durchzieht aber auch den Rest der Einspielung der Lieder aus «Des Knaben Wunderhorn», die der Bariton Thomas Hampson und die Wiener Virtuosen hier vorlegen. Die kammermusikalische Variante des Liederzyklus ist eines der selten gewordenen Ereignisse in der zeitgenössischen Flut von CD-Produktionen: Eine Aufnahme die packt, überzeugt, Massstäbe setzt und den Eindruck hinterlässt, neben den unzähligen Adabeis in Polycarbonat ziehe man nach dem Anhören für einmal wieder etwas aus dem CD-Player, das zum Kanon der unverzichtbaren Neuerscheinungen gehört.
Da wird etwas gesagt, was aufhorchen und staunen lässt. Der überaus differenziert notierte Tonsatz Mahlers wird transparent, mit Spiellust und Tiefgang ausgedeutet und in perfektem Deutsch teils frech, teils verschmitzt, teils schmachtend deklamiert.
Die Reihenfolge der Lieder entspricht (bewusst oder unbewusst?) einem Vorschlag, den der Berliner Musikwissenschaftler Mathias Hansen gemacht hat: auf Nummern mit volkstümlich-tänzerischem Charakter («Rheinlegendchen», «Trost im Unglück») folgen die Predigten («Lob des hohen Verstandes», «Des Antonio von Padua Fischpredigt») und schliesslich die Soldatenlieder. Abgeschlossen wird der Zyklus hier vom irdischen und himmlischen Leben und dem Urlicht.
Die solistische Streicherbesetzung verschiebt das Gewicht auf die Bläser und die Perkussion und unterstreicht den bizarren, spöttischen und herben Grundklang in transpranter, scharf konturierter Feinzeichnung. Als ob es für den durch und durch überzeugenden Höreindruck einer Legitimerung bedürfte, rechtfertigt Hampson die reduzierte Besetzung im Booklet mit Aussagen Mahlers, der in einem Brief an Richard Strauss 1905 selber darauf hingewiesen habe, dass die Lieder eigentlich «Kammermusik» seien und er sie selber in Wien deshalb in einem kleinen und nicht einem grossen Saal zur Aufführung gebracht habe.
Gerade den andern Akzent setzen Boulez und das Cleveland Orchestra in einer Aufnahme mit Magdalena Kožená und Christian Gerhaher als Solisten. Da legt ein schwerer Streicherklang den Boden, alles wirkt flächiger, pauschaler. Gerhaher – wie die Mezzosopranistin mit vorbildlicher Diktion – wirkt im direkten Vergleich harmloser und blasser als Hampson. Kožená rückt Mahler stellenweise in Léhar-Nähe, das Aufteilen der Gesangspartie auf zwei Stimmen macht die Interpretation anonymer und damit weniger intim als der eindringliche Erzählton Hampsons.
Gefühlt sind die Tempi der Boulez-Aufnahme deutlich zügiger als diejenigen der Wiener Virtuosen. Der Vergleich der Zeiten in den Booklets bestätigt den Eindruck, dass das amerikanische Orchester unter dem französischen Dirigenten eher vordergründig durch die Partitur eilt und Hampson mit dem Kammerensemble die Feinheiten ausspielt, ohne dass der Eindruck entstünde, es werde verschleppt.
Für den «Tamboursg’sell» brauchen die Amerikaner 4 Minuten 56 Sekunden, die Wiener exakt 2 Minuten (!) mehr, bei den Clevelandern predigt Antonio 3 Minuten und 35 Sekunden zu den Fischen, bei den Wienern braucht er dazu 4 Minuten und 13 Sekunden. In sehr wenigen Fällen sind die Amerikaner ein Tick schneller.
Da hat es denn auf der CD mit Boulez auch noch Platz für das Adagio aus der unvollendeten zehnten Sinfonie Mahlers. Das Anhängsel wirkt genauso: wuchtig und wenig durchgeformt, aber kaum als «Resümee all dessen, was Mahler zuvor komponiert hat», wie Boulez im Booklet behauptet. (wb)
Mahler: Des Knaben Wunderhorn, Thomas Hampson (Bariton), Wiener Virtuosen, Deutsche Grammophon/Universal, Best.-Nr.477 9289.
Gustav Mahler: Des Knaben Wunderhorn, Symphonie No. 10: Adagio, Magdalena Kožená (Mezzosopran), Christian Gerhaher (Bariton), The Cleveland Orchestra, Pierre Boulez (Leitung), Deutsche Grammophon/Universal, Best.-Nr. 4777 9069