02.09.2013 — Man kann sich mehr und mehr wundern über Künstler, die allbekanntem Repertoire mit allerlei programmatischen oder konzeptuellen Kniffs und Tricks doch noch etwas Originalität abzugewinnen versuchen. Die CD «Morgenlicht» des Rundfunkchors Berlin irritiert mit dem Gegenteil: So etwas Braves, Konventionelles, ja Unoriginelles ist schon lange nicht mehr auf dem Schreibtisch gelandet. Während des Abhörens fühlt man sich immer wieder in eine christliche Devotionalienandlung versetzt, in der solche Aufnahmen als Klangtapete akustische Aromakerzenstimmung verbreiten. Ein Fest des Süsslichen: Harfe, Orgel, die ohrwurmigsten sakralen Ohrwürmer, die man sich denken kann, vom C-dur-Präludium des Wohltemperierten Klaviers mit Harfe über Jesu, meine Freude, Mozarts Ave verum corpus (mit Harfe und Orgel), bis zu Nun ruhen alle Wälder…
Was motiviert eine solche Produktion ohne auch nur angedeutete Ecken und Kanten? In seiner Heimat seien Kirchenlieder überaus beliebt, schreibt der populäre Chordirigent Simon Halsey dazu, was sich nicht zuletzt darin zeige, dass die BBC ihrer Sendung Songs of Praise einen Platz in der Hauptsendezeit einräume. Auch Gottesdienste würden gern im Radio mitverfolgt, und der Weihnachtsgottesdienst des King’s College Choir, in dem er auch gesungen habe, habe jedes Jahr Einschaltquoten in Millionenhöhe.
So weit so gut. Wieso dann aber eine CD, die weit hinter dem zurückbleibt, was heute im kirchlichen Alltag im deutschsprachigen Raum praktiziert wird? Ist Halsey zu wenig vertraut mit dem Gemeindeleben auf dem Kontinent? Geht es tatsächlich darum, mit kirchlichen Angeboten Ansprechbaren etwas in den CD-Spieler zu schieben, das ihrem All- respektive Sonntag nahe ist? Dann wäre es wohl angezeigt gewesen, auch Titel populärer zeitgenössischer Chorkomponisten wie Lorenz Maierhofer oder Patrick Dehm ins Programm aufzunehmen. Haben es Chor und Deutsche Grammophon vorgezogen, sich auch nicht im Zaghaftesten gegenüber innerkirchlicher Auseinandersetzungen um Tradition und Aufbruch zu exponieren?
Im Booklet schreibt der Theologe Johann-Hinrich Claussen: «Inzwischen ist der Gemeindegesang natürlich längst kein evangelisches Sondergut mehr, sondern ein ökumenischer Allgemeinbesitz geworden. Evangelische Choräle finden sich in katholischen Gesangbüchern und lateinische Gesänge wie diejenigen aus Taizé werden in evangelischen Gottesdiensten gesungen – Musik überwindet eben Grenzen, auch Kirchenmauern». Der Gemeindegesang ist aber auch in Sachen Repertoire und Stil längst kein braves Frömmeln mehr. So lässt einen das «Morgenlicht» denn etwas ratlos in bigotter spiritueller Watte zurück. (wb)
Morgenlicht. Kirchenlieder & Choräle. Rundfunkchor Berlin, Simon Halsey. Deutsche Grammophon/Universal Best.-Nr. 479 1303.