19.07.2013 — Der Süden Europas steht zur Zeit ja aus ganz andern als musikalischen Gründen medial im Mittelpunkt: Politisch und wirtschaftlich scheint da einiges schiefgelaufen zu sein. Statt Italien-Sehnsucht und Griechenland-Faszination sind eher Staunen über kollabierende politische Klientelsysteme und (mehr als berechtigte) Besorgnis über hohe Jugendarbeitslosigkeit angesagt. Da wird auf das Projekt Europa noch einiges zukommen. Die systemischen Defizite des Südens haben allerdings lange Tradition. Die Menschen des Mittelmeerraums haben es aber immer wieder geschafft, sich initime, freie Rückzugsorte zu schaffen und in Hinterhöfen, unter Pergolas, in versteckten familiären Kneipen und auf Inseln Schönheit und Feste kreativer Begegnungen zu kultivieren. Davon zeugen etwa Boccaccios Decamerone, oder die Musik verschiedener verfolgter ethnischer oder religiöser Minderheiten, Gitanos, Juden, Sufis und so weiter.
Dieser intimen Welt aus Sinnlichkeit, Sehnsüchten, Träumereien und ausgelassener Sanftmut setzt das Ensemble L’Arpeggiata ein Denkmal. Da versammelt sich einiges an spektakulären Gastkünstlern, von der Fado-Sängerin Misia über die Katalonin Nuria Rial, die spanische Sopranistin Raquel Andueza, bis zum Italiener Vicenzo Capezzuto und der Griechin Katerina Papadopoulou, um das Fest der Musik zu feiern ‒ mit den Instrumentalvirtuosen Sandro Daniel Costa (portugiesische Gitarre), Daniel Pinto (portugiesische Viola), den Griechen Sokratis Sinopoulos (Lyra) und Nikoalos Mermigkas (Laute) sowie den Türken Aytaç Doğan (Qanun) und Ismail Tunçbilek (Saz).
Das Ensemble L’Arpeggiata selber steuert das Instrumentarium der Alten Musik bei, mit Barockharfe, und -gitarren, Theorbe, Cornett, Psalter, Cembalo, unterlegt von einem modernen Kontrabass ‒ ein Klangkosmos, der sich perfekt zu einem Ganzen fügt und die Herkunft des (nord-)europäischen Instrumentariums aus der arabischen Kultur unterstreicht ‒ so ist ja im heutigen Klavier, und erst recht im Cembalo, der Ursprung aus der arabischen Brettzither Qanun noch fühlbar.
Ausgangspunkt des Albums ist der «Canto greco-salentino», die von vielfältigen Eroberungen aus dem Norden und dem Süden und Fremdherrschaft geprägte Musik eines Teils von Süditalien, mit Einflüssen aus der Region selber, aber auch aus der Türkei und der arabischen Welt. Dazu kommen Titel aus Portugal, Griechenland, Spanien, der Türkei, Mallorca und Neapel, ein historisch und stilistisch wohldurchdachtes Panoptikum entfaltet sich da. Musiziert wird allerdings gänzlich ohne didaktischen oder lexikalischen Zeigefinger, sondern authentisch, lustvoll, verführerisch, sanft, sinnlich und höchst virtuos. Ein wahres Kleinod präsentieren uns die Beteiligten ‒ einen Sommerhit der andern Art. (wb)
L’Arpeggiata, Christina Pluhar: Mediterraneo, EMI Records/Virgin Classics, 2013