30.09.2011 — Liszts Musik ist aufgeladen mit Bedeutung – skurril-virtuose Ornamentik überwuchert die Form, literarische Programme rechtfertigen Extreme von Figuren und Farben – und führen in Erlebniswelten, die heutigen erotisch-fantastischen Subkulturen nicht unähnlich scheinen. Man lese etwa wie die Petrarca-Sonette, die der Komponist in den Années de Pèlerinage verarbeitet hat, sadomasochistische Sehnsüchte nur schlecht kaschieren.
Diese exhibitionistische Schwülstigkeit dürfte hauptsächlich verantwortlich sein für den schlechten Ruf, den sich Liszt schon bei seinen Zeitgenossen eingehandelt hat. Clara Schumann fand seine Musik schrecklich (da schwang vermutlich aber auch ein wenig Eifersucht der Konzertpianistin auf den Tastenhexenmeister mit), auch der zur Schumann-Fraktion gehörende Brahms mochte ihn nicht. Wie viele Exzentriker, die ihre Seelenabgründe gerne in der Öffentlichkeit ausloten, war Liszt selber demgegenüber ein sehr umgänglicher und friedliebender Mensch.
All diese Legenden und Skandälchen, die sich um den ungarischen Popstar des 19. Jahrhunderts ranken. scheinen für Nelson Freire keine Rolle zu spielen. Er spielt einige der exzessivsten Werke Liszt mit beharrlicher Ernsthaftigkeit und Zurückhaltung, und man darf ihm dafür dankbar sein. Mit grosser technisch-musikalischer Souveränität lässt er einfach das aufblühen, was dieses Klavier-Oeuvre als reine Musik so interessant macht: Die Texturen, das Kühne der Klangflächen, die Tongirlanden, Spektren und Energiemodulationen, die als Skizzen ohne formal ausgewogene Grossformen weit über Liszts eigene Zeit hinausweisen.
Das macht Liszts Musik erträglich und zeigt einmal mehr, was für ein grosser Interpret Freire ist. Die CD ist sicherlich einer der Höhepunkte in der nicht geringen Zahl von Veröffentlichungen zum Liszt-Jahr. (wb)
Franz Liszt: Liszt: Harmonies du Soir. Nelson Freire (Klavier), Waldesrauschen, Années de pèlerinage: Sonetto 104 del Petrarca, Valse oubliée Nr.1 in Fis-Dur, Ballade Nr.2 in h-Moll, Au lac de Wallenstadt, Ungarische Rhapsodie Nr.3, 6 Consolations, Harmonies du soir. Decca/Universal Best.-Nr. 4782728.