14.05.2010 — Da begegnen sich Ausnahmetalente auf Augenhöhe: Andrea Marcons Venice Baroque Orchestra setzt in Sachen italienischem Barock zur Zeit Massstäbe, mit zugleich kraftvollem und luzidem Spiel, glitzernder Leichtigkeit und impulsivem, aber kontrolliertem Temperament. Und die Sopranistin Patricia Petibon beweist einmal mehr, dass sie sich in der sehr dünnen Luft auf dem recht einsamen Gipfel des globalen Sängerolymps souverän zu bewegen versteht, ohne dass ihr die Puste auszugehen droht. Ganz im Gegenteil: Je höher ihre Stimme klettert, umso mehr scheint sie an Energie und schneidender Expressivität zu gewinnen, und nie hat man den Eindruck, da seien schon alle Reserven aufgezehrt.
Mit ihrer Jahrhundertstimme versteht es Particia Petibon, die italienischen Barock-Arien, denen ihre aktuelle CD gewidmet ist, mit einer Selbstverständlichkeit zu gestalten, die immer originell, überraschend und stimmig wirkt und eine Art Verismo pflegt, der zwar individualistisch, ja fast romantisch anmutet, ohne aber je den Boden der barocken Ästhetik zu verlassen.
Was man eher in einem norditalienischen Patrizierhaus vermutet hätte, hat ausgerechnet in einem Gustav Mahler gewidmeten Saal in Toblach stattgefunden. Die Aufnahmesitzungen haben allerdings nichts von der morbiden Fin-de-Siècle-Melancholie des österreichischen Sinfonikers aufgesaugt. Auch wenn sich in den Texten der barocken Opern antike Helden und Antihelden unablässig an die Gurgel gehen, entwerfen die Sängerin und das Instrumental-Ensemble einen musikalischen Kosmos voll praller Lebenslust. Wichtige atmosphärische Akzente setzen dabei die Lauten- und Barockgitarrenspieler Daniele Caminiti und Josias Rodriguez.
Bei aller Kühnheit und Künstlichkeit der Gestaltung wirkt Petibons Sopran nie exhibitionistisch, immer effektvoll, aber nie affektiert. Aber auch wenn es den Eindruck zu machen scheint: Die hohe Kunst des Barockgesangs ist der französischen Sängerin mit Vivaldi-Mähne nicht einfach zugeflogen. Das solide Rüstzeug dazu hat sie sich in intensiver Zusammenarbeit mit dem Dirigenten und Cembalisten William Christie und dem Ensemble Les Arts Florissants erworben.
Aufs Barocke beschränkt sich ihre Kunst im übrigen keineswegs. Auch als Mozart-Interpretin hat sie sich einen hervorragenden Namen gemacht, und diesen Sommer wird sie am Festival von Salzburg in Alban Bergs «Lulu» in der Titelrolle zu hören sein. Man zweifelt keine Minute, dass sie auch diese Aufgabe auf singuläre Art bewältigen wird. (wb)
Rosso – Italian Baroque Arias. Patricia Petibon (Sopran), Venice Baroque Orchestra, Andrea Marcon (Leitung). Werke von Händel, Marcello, Porpora, Sartorio, Alessandro Scarlatti, Stradella und Vivaldi, Deutsche Grammohpon/Universal, Best.-Nr. 477 8763