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Pollinis Wohltemperiertes Klavier

22.01.2010 — Pollini spielt Bachs «Wohltemperiertes Klavier» ein? So ein Projekt liegt etwas schräg in der gegenwärtigen musikalischen Landschaft. Der italienische Pianist hat ein unverkennbares, nicht unumstrittenes eigenes künstlerisches Profil – was ihn heute schon weit über den Durchschnitt der Klaviervirtuosen hinaushebt; in den Domänen der Alten-Musik-Spezialisten hat er sich bislang allerdings nicht bemerkbar gemacht. Der technische Perfektionist hat sich zunächst mit Chopin-Interpretationen, später mit eigenen Sichtweisen auf Wiener Klassik und Moderne einen Namen geschaffen. Wagt er sich nun auf barockes Terrain, so dürfte dies zunächst einmal Ausdruck eines Zeitgeistes sein, der für die intuitive Musikantik der fünfziger und sechziger Jahre auf undogmatische, aber dennoch eher restaurative Art das barocke Repertoire wieder für sich reklamiert.

Zumindest mit Blick auf das «Wohltemperierte Klavier» ist das sicherlich legitim, ist der monumentale Zyklus doch weit mehr als bloss Zeugnis barocken Lebensgefühls. Vielmehr stellt er ein über seiner Zeit stehendes musikalisches Grundlagenwerk dar, das immer wieder neu und immer wieder unter den verschiedensten Aspekten gedeutet werden soll und kann, was denn Künstler von Glenn Gould bis Keith Jarrett auch getan haben.

Man kann sehr grob gesehen zwei Interpretations-Ansätze für das Werk postulieren: Der eine entwickelt ausgehend von der barocken Lehre der Klangrede eine organische, melodiebetonte, sängerische Auffassung und legt dabei viel Sorgfalt in die Ausdeutung und Ausgestaltung von Verzierungen und Phrasierungen. Der andere betont stärker die architektonischen Dimensionen und widmet sich eher dem Herausarbeiten von Texturen und formalen Spannungsgleichgewichten.

Pollinis Bach scheint in die zweite Kategorie zu fallen. Die sängerisch atmenden Mittel wie Rubati, Artikulationen, Mikrophrasierungen und differenzierte oder reflektierte Verzierungskunst sind nicht im Fokus seines Interesses. Er entwirft auf einem modernen Konzertflügel (Angaben zum benutzten Instrument finden sich leider nirgends) ein «Wohltemperiertes Klavier», das transparent und feingezeichnet, aber auch etwas mechanistisch anmutet und den Interpreten hinter dem Notentext eher zurücktreten lässt. Man kann dies als ästhetische Unentschiedenheit deuten, aber auch als künstlerische Souveränität, welche die Einspielung zum Benchmark für Interpretationen macht, die einen persönlicheren und ästhetisch eigenwilligeren Zugang zu dem Werk suchen.

Bedauerlich ist, dass die Aufnahmetechnik mit Pollinis Interpretationsansatz nicht wirklich korrespondiert. Das eher verhallte und dumpfe Klangbild hätte einer sängerischen, aufs melodische Atmen und Ausziselieren der Linien fokussierenden Interpretation möglicherweise die richtige Portion Wärme verleihen können. Pollinis in allen Lagen durchsichtiges Spiel verwischt sie eher, und sie beraubt dieses ein wenig des Glanzes. (wb)

Maurizio Pollini: The Well-Tempered Clavier I, aufgenommen 2008/2009 im Münchner Herkulessaal, Doppel-CD, Booklet mit einem Essay des italienischen Musikwissenschaftlers Paolo Petazzi (e/d/f), Deutsche Grammophon, Best.-Nr. 477 8078.

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