27.12.2010 — «The Gentleman’s Flute», Händel-Arien auf der Blockflöte. Aha, da ist einer mit der Originalliteratur seines Instrumentes unzufrieden und okkupiert mit Bearbeitungen das grosse Repertoire – um auch teilhaben zu können an den Trends der Epoche. Falsch. Oder zumindest nicht ganz richtig. Das Motiv stimmt schon, bloss die zeitliche Zuschreibung ist falsch. Nicht der Blockflötenvirtuose Stefan Temmingh verfolgt die übliche Masche, um sich und sein Instrument heute ins rechte Licht zu rücken.
Er dokumentiert vielmehr ebendieses Bemühen von Händels Zeitgenossen, die – kaum hatten die jeweils neuesten Opern des Meisters die feine Londoner Gesellschaft entzückt – auch schon Bearbeitungen für «Recorder» auf den Markt warfen.
Temmingh amtet bloss als Bearbeiter der Bearbeiter, wenn er Transkriptionen der Zeit aus der Feder eines John Walsh oder des Händel-Cembalisten William Babell aktualisiert und in die heutige Zeit hinüberrettet. Und er dokumentiert ein Stück Musiksoziologie des britischen Barockzeitalters.
Anstoss zu der CD haben Forschungen Temminghs zu den Lebensgewohnheiten des barocken Londons gegeben. Er stellte sich vor, wie die Opernliebhaber und feinen Herren, unter denen das Blockflötenspiel damals buchstäblich zum guten Ton gehörte (die Damen hauten eher in die Tasten), sich zu einer Motto-Party trafen. Zusätzlich zu den Händel-Arien erklingt da die g-Moll-Blockflötensonate des Meisters.
Die Arien, vornehmlich aus den Opern Rinaldo und Alcina deutet Temmingh in eigenständige kleine Kunstwerke um, die mehr die kompositorische Substanz ausleuchten, als die Kantilenenseligkeit beschwören. Der in Sachen Intonation und Dynamik recht starre Blockflötenklang eignet sich ja auch kaum zur Imitation einer Singstimme.
Farbe bringen neben einer Vielzahl unterschiedlich grosser Flöten eine unbändige Spiellust und das Begleitensemble mit Cembalo, Viola da Gamba, Barockfagott, Laute, Theorbe und sogar einem Psalter, die ein farbiges, transparentes, lichtduchflutetes Klangbild erzeugen.
Der Consort mit Mitgliedern aus Russland, Australien, Slowenien, Deutschland und Italien setzt sich mehrheitlich aus Musikerinnen und Musikern zusammen, die am Münchner Konservatorium studiert haben.
Der Fagottist Lyndon Watts unterrichtet überdies an der Hochschule der Künste in Bern, wo er auch ein Projekt zum Nachbau von Instrumenten des Pariser Fagottbauers Jean-Nicolas Savary le jeune (1786-1853) leitet. Das Mastering der Silberscheibe besorgte eine Zürcher Firma. Selbst so kosmopolitisch wie das Händelsche London ist man hier. (wb)
Stefan Temmingh: The Gentleman’s Flute, Händel-Arien in Bearbeitungen des 18. Jhdts. für Blockflöte & Basso Continuo (Salterio, Cembalo, Gambe, Fagott, Laute, Harfe), OehmsClassics Best.-Nr. OC 772.