14.10.2011 — Der britische Barde Sting hat sich für die Deutsche Grammophon in Brückenschlägen zwischen moderner Singer-/Songwriter-Ästhetik und klassischer Musik geübt (siehe Codex-flores-Rezensionen). Auf Wunsch des Labels mit dem charakteristischen gelben Balken hat sich nun seine amerikanische Kollegin Tori Amos daran gemacht, einen Liederzyklus fürs 21. Jahrhundert einzuspielen. Das ist, sagen wir mal, eine interessante Idee. Liederzyklen wie die Schubertsche «Winterreise» gehören zu den unpopulärsten Musikgattungen und finden selbst unter Klassikfans nur eine Minderheit an Anhängern. Sie sind «Musician’s Music», wie man das Neudeutsch ausdrücken könnte: Werke, die vor allem von Sängern gehört und geschätzt werden und darüberhinaus vielleicht von einem kleinen Liebhaberkreis. Das entspricht ganz der Stellung, die im Literaturbetrieb die Lyrik einnimmt.
Auf der andern Seite sind Singer-/Songwriter in der zeitgenössischen populären Musik sehr beliebt. Dass gerade Tori Amos von der Deutschen Grammophon für so ein Projekt angegangen worden ist, liegt vermutlich auch daran, dass die Sängerin als Kind ursprünglich einmal (allerdings nicht sehr ambitioniert) eine klassische Ausbildung genossen hat, und weil statt der notorischen Gitarre das Klavier (ein Bösendorfer) ihr Instrument ist.
Die Sängerin hat die Herausforderung angenommen, und auf Basis von Melodiematerial klassischer Charakterstücke aus den Federn von Chopin, Granados, Alkan, Bach, Scarlatti, Debussy, Mendelssohn, Mussorgsky und Satie einen Zyklus geschrieben, der – sicherlich mit Blick auf eine mehrheitlich weibliche Käuferschaft – den emanzipatorischen Prozess einer Frau bei der Bewältigung einer aufgelösten Beziehung beschreibt.
Einiges macht Tori Amos dabei durchaus richtig. Das melodische Material wird nie plump eingesetzt, anbiedernde Repertoire-Reisser fehlen, der Charakter der historischen Vorbilder ändert sich oder gar ihre Form, vieles davon erkennt man erst beim zweiten Hören. Der Arrangeur John Philip Shenale hat dazu etwas plakative Partituren für ein Holzbläser-Quintett (ohne deren speziellen Charakter wirklich auszureizen) und ein Streichquartett erstellt, zudem wirken Amos’ Tochter und Nichte stellenweise sängerisch und schauspielerisch mit. Natürlich steht der Flügel von Tori Amos im Zentrum.
Optisch kommt die Produktion im Stil der zur Zeit boomenden Vampirfilme und –bücher daher (ein Titel – einem Venetianischen Gondellied Mendelssohns nachempfunden – heisst sogar Nautical Twilight, in den Titeln anderer ist von Geistern, Flüstern, dem Mond oder einem Sarg die Rede) und auf dem Booklet erinnert die Sängerin etwas an Anjelica Huston in der Serie Addams Family, das Ganze hat einen Zug ins Geschmäcklerische und liegt quer zur unprätentiösen Emotionalität, die klassische Liederzyklen auszeichnet. Es ist aber nichtsdestotrotz sorgfältig gestaltet und ansprechend präsentiert.
Die Musik leidet etwas an den gleichen Problemen wie die entsprechenden Produktionen Stings: Amos Stimme hat für solche Ausflüge in die Kunstlied-Welten zu wenig Variationskraft und wirkt recht schnell eintönig und repetitiv. Die meisten Lieder folgen zudem dem gleichen gemessen-elegischen Gestus. Das Konzept trägt deshalb nicht über die volle Zeit einer CD, ohne etwas an Faszination zu verlieren. (wb)
Tori Amos: Night of Hunters, Deutsche Grammophon/Universal, Best.-Nr. 00289 477 9429.