22.07.2011 — Es ist ja bald 1. August – der Schweizer Nationalfeiertag –, da fühlen wir uns ganz patriotisch. Gerade richtig kommt da eine ungewöhnliche Neueinspielung von Rossinis «Wilhelm Tell» in der Originalsprache Französisch. Originalsprache? «La nuit, à nos desseins propice/Nous entoure déjä d’une ombre protectrice» – hat Tell im Original auf dem Rütli das tatsächlich so gesagt?
Nun ja: «Die Nacht ist unseren Plänen günstig; sie umringt uns schon mit schützendem Dunkel» wird’s wohl auch kaum gewesen sein, schon eher ein unwillig in den Bart gemurmeltes «Manne, a d’Seck» oder so. Eine sprechende Metapher für die Schweiz ist wohl eher die Geschichte der Libretto-Versionen: Die deutsche Übersetzung folgt (laut Anmerkung im Booklet) der italienischen Übersetzung des französischen Originals von Calisto Bassi – das wiederum muss ja fast vom deutschen Text Schillers inspiriert sein. Was will man mehr in der mehrsprachigen Schweiz.
«Guillaume Tell» in der Originalsprache wird hier von einem kosmopolitischen Ensemble dargeboten. Der Dirigent Antonio Pappano ist Italiener, Chor und Orchester kommen auch vom Stiefel (Orchestra e Coro dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia), der Tell (Gerald Finley) ist ein in England ausgebildeter Kanadier, Hedwig (Marie Nicole Lemieux) eine Landsfrau Tells, respektive Finleys, Tells Sohn (Elena Xanthoudakis) ist Australo-Griechin (in einer Kurzhosenrolle), Mathilde (Malin Byström) Schwedin, Arnold Melchthal (John Osborn) und Walter Fürst (Matthew Rose) sind US-Amerikaner, Melchthals Vater (Frédéric Caton) Franzose, Gessler und sein Scherge Rudolph (Carlo Cigni) sind Italiener, Leuthold (Dawid Kimberg) ein Südafrikaner. Schweizer ist keiner, schon gar nicht Urschweizer.
So ist es halt eben in den Opernhäusern. Kaum eine andere Institution eignet sich so schlecht als Symbol für patriotische Anwandlungen. Sie ist seit jeher (vom italienisch-französischen Querelle des Bouffons im 18. Jahrhundert mal abgesehen) grenzenlos und alleine der Kunst (und ein ganz, ganz klein bisschen auch dem Geld) und nicht der Nation verpflichtet.
Etwas Schweizerisches hat die Oper dennoch: Die eigentliche Heldin des Werkes ist nämlich – ganz basisdemokratisch – das Volk in Form des Chores. Da strecken nicht einzelne den Kopf in die Höhe, die «Landsgemeinde» hat das Sagen, oder in diesem Fall das Singen. Der Coro dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia wirkt da larger than life: Soviel vitale Power, soviel Schmiss und Schwung wünschte man sich manchmal auch vom Volk der Sennen, dessen Kollektivcharakter doch eher der emotionalen Zurückhaltung verpflichtet scheint.
Man könnte meinen, die Aufnahme sei ein Schnappschuss aus einer szenischen Aufführung, denn da wird mit dem breiten Opernpinsel gearbeitet: Schon die Ouvertüre hat die packende Kraft des Theatralischen, auch später wackeln ab und zu die Einsätze als müssten Bühnengeschehen und Orchestergraben ständig neu koordiniert werden.
Der Einspielung zugrunde liegen aber offenbar konzertante Wiedergaben (insgesamt sechs) vom Oktober und Dezember 2010 in Rom – eine zusammengeschnipselte Near-Life-Produktion also. Auch damit wird man in der Schweiz leben können: Ihr pragmatisches Staatswesen ist ja auch ein förderalistisches Zusammenwürfeln dessen, was gerade passt. (wb)
Rossini: William Tell In The Original French. Orchestra e Coro dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia, Antonio Pappano (Leitung). Solisten: Gerald Finley, John Osborn, Malin Byström, Marie-Nicole Lemieux und andere. EMI Classics, 3 CD+Booklet, Best.-Nr. 50999 0 28826 2 8.