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Alfred Brendels Konzerte zum Abschied

13.11.2009 — Der Bach-Choral zum Ausklang. Das ist schon fast allzu bedeutungsschwer. In Bergs Violinkonzert setzt der Choral «Es ist genug» den todesumwehten (Fast-)Schlusspunkt, und auf der sinkenden Titanic soll die Kapelle die Höllenfahrt ins kalte Grab mit «Näher mein Gott zu dir» orchestriert haben. Auch die Doppel-CD mit Aufnahmen zweier Abschiedskonzerte des Pianisten Alfred Brendel enden mit einem Bach-Choral, nämlich Busonis Bearbeitung des Vorspiels zu «Nun komm’ der Heiden Heiland» (BWV 659).

Der Titel eignet sich ja nun nicht gerade zur Beschwörung von Endzeitstimmung; Brendel ist auch heute nach wie vor quicklebendig. Der vielsagende Schlusspunkt ist im Grunde genommen aber auch gar keiner. Das Busoni/Bach-Werklein bildet in der Dramaturgie der beiden CDs den Abschluss der Zugabenreihe, die Brendel am 14. Dezember 2008 in Hannover einem Rezital nachgeschoben hat (die beiden vorangehenden Bis waren die Beethoven-A-Dur-Bagatelle op. 33, Nr.4 und Schuberts Impromptu Ges-Dur, D899, Nr. 3).

Mit dem Bach plante Brendel offensichtlich auch das Konzert vom 18. Dezember 2008 im Musikverein Wien, den definitiv endgültig letzten Schlusspunkt der finalen Abschiedstournee, abzurunden. Dort erklatschte sich das Publikum allerdings ein weiteres Encore, und Brendel verliess das Podium nach einer Wiedergabe von Liszts «Au Lac de Wallenstadt». Es soll unfreiwillig vom hartnäckigen Klingeln eines Mobiltelefons im Auditorium begleitet gewesen sein. Ein ziemlich prosaischer Punkt hinter eine lange Solistenkarriere. Aber auch nicht ganz frei von Anspielungen auf den Anlass, handelt es sich doch um einen Auszug aus dem Album «Années de Pèlerinage» Liszts, und eine Art Pilgerreise ist so eine Musikerkarriere ja tatsächlich. Der Klingelton wiederum schien eine Art Menetekel für das, worauf unser Konzertleben nach dem Abgang von Persönlichkeiten wie Alfred Brendel hinsteuern könnte. Im schlimmsten Fall.

Dass auf die CD das Rezital in Hannover mitsamt Zugaben gebrannt worden ist, deutet darauf hin, dass hier nicht das musikalische Werk, sondern tatsächlich der historische Anlass im Vordergrund steht. Heutzutage sind Live-Aufnahmen ja auch mehr oder weniger poliert, zusammengeschnitten und aufgemotzt und damit so steril wie weiland Studioarbeiten. Das vorliegende Album hingegen verströmt erfreulicherweise den Charme historischer Konzertaufnahmen: da wird mit den Füssen gescharrt, geräuspert, geklappert und (von Brendel selber) mitgesungen, gebrummt und – hören wir richtig? – ab und an sogar innerlich erheitert gekichert ob des Gespielten.

Der Mann hat Stil. Schon der selbstbestimmte Abgang zu einem Zeitpunkt, zu dem noch alles im Lot ist, zeugt davon. Aber auch die souveräne Gelassenheit, mit der er das musikalische Programm angeht, hat echte Klasse. Gegen eine Aufnahme des Rezitals in Hannover hat sich Brendel laut eigenen Aussagen zunächst gewehrt. Dass seine Entourage in umzustimmen vermochte, kann ihr nicht genug verdankt werden. Selten genug vermitteln heutige CD-Produktionen das Gefühl, an einem authentischen und nicht von irgendwelchen Marketingstrategen konstruierten Ereignis teilzuhaben.

Bei modernen «Live»-Aufnahmen sind Huster und Stühlerücken lästige Störfaktoren. Hier ist dies interessanterweise nicht der Fall. Dies hat vor allem damit zu tun, dass bei allem klanglichen Raffinement der Wiener Philharmoniker und des Pianisten nicht die polierte Oberfläche der Musik das Wesentliche ausmacht, sondern die lebendige und farbenreiche Ausdeutung der Mikro- und Makroarchitektur der Kompositionen, die auch aufnahmetechnisch eine ungewöhnliche räumliche Plastizität schafft. So konturiert und klanggeredet hört man Mozarts «Jeunehomme»-Konzert KV 271 sonst kaum je. Und auch Haydns geniale f-Moll-Variationen HOB XVII:6 sowie die Sonaten – Mozarts KV 533 in F-Dur, Beethovens 13. in E-Dur und Schuberts D960 in B-Dur – hört man hier beseelt und frei von jeglicher Effekthascherei. Die Doppel-CD erinnert so in gewisser Weise an einen Spruch, den die Erbauer des Berner Münsters stolz in einen Stein des alles überragenden Gebäudes gemeisselt haben: «Mach’s na» steht dort. Das dürfte im Fall Brendels zur echten Herausforderung werden. (wb)

Alfred Brendel: The Farewell Concerts, Alfred Brendel (Piano), Wiener Philharmoniker, Sir Charles Mackerras (Leitung). Aufnahmen von den Konzerten vom 14. Dezember 2008 im Grossen Sendesaal des Landesfunkhauses Niedersachsen (Hannover) und vom 18. Dezember im Musikverein Wien. Universal/Decca, Best.-Nr. 478 2116

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