03.11.2006 — In den letzten Jahren hat Anna Netrebko, der neue Publikumsliebling unter den Sopranistinnen, sich weit über die exklusive Gesellschaft der Opernliebhaber einen Namen gemacht – dank der Bereitschaft, in Fussballstadien auch populäre Programme zu absolvieren und in Fernsehshows ein dankbares, ansonsten eher klassikfernes Publikum zu bedienen. Damit hat sie bewiesen, dass sie nicht nur mit einer hervorragenden Stimme begabt ist, sondern auch über ein weiteres, im globalen Musikgeschäft unabdingbares Talent verfügt: Unter grossen Belastungen kontinuierlich Spitzenleistungen zu erbringen und dabei die eigene natürliche Ausstrahlung und künstlerische Glaubwürdigkeit nicht zu kompromittieren.
Durch den ungewöhnlichen Ruhm lässt sie sich tatsächlich nicht zu Unvorsichtigkeiten verlocken: Ein für März dieses Jahres geplantes Rezital in der renommierten New Yorker Carnegie Hall hat sie abgesagt, weil sie sich für diese Art des anspruchsvollen Solokonzertes noch nicht sicher genug fühlte. Aber auch mit dem «russischen Album», das sie nun vorlegt, beweist sie Charakter. Sie rückt dabei – was mit dem Seitenblick auf den kommerziellen Erfolg auf der Hand gelegen wäre – nicht ihre Stimmkraft und expressive Agilität ins Licht, sondern bricht eine Lanze für ein Repertoire, das für ein westeuropäisches Publikum noch einiges an Entdeckungen mit sich bringen dürfte.
Das Album ist ein wunderbar feines, melancholisches und unprätentiöses Rezital mit Liedern und Arien, von denen einige überhaupt noch nie eingespielt worden sind. Es bringt in der Originalsprache Russisch, der Muttersprache der Sängerin, Ausschnitte aus den Opern «Iolanta» und «Eugene Onegin» von Tschaikowsky, «Das Märchen vom Zaren Saltan», «Die Zarenbraut», «Schneeflöckchen» von Rimsky-Korsakow, «Francesca da Rimini» von Rachmaninow und «Ein Leben für den Zaren» von Glinka, aber auch Lieder von Rachmaninow und Tschaikowsky sowie einen Ausschnitt aus Prokofiews Oper «Krieg und Frieden», mit der die Sängerin 2000 als Natascha an der Met debütiert hat. Die Rolle scheint ihr auf den Leib geschrieben.
Ort und Mitwirkende des «russischen Albums» könnten authentischer nicht sein. Zur Seite stehen Anna Netrebko ihr Mentor Valery Gergiev als Dirigent und der Chor und das Orchester des St. Petersburger Mariinski-Theaters, sowie in einzelnen sekundierenden Partien Zlata Bulycheva (Mezzosopran), Dmitry Voropaev (Tenor), Alexander Morozov (Bassbariton) und Ilya Bannik (Bass). Das Mariinski Theater diente zwischen Dezember 2005 und Juni 2006 auch als Aufnahmeort.
Das Klangbild der CD wirkt trotz der teils opulenten Orchesterpartien beinahe intim und kammermusikalisch. Ein Grund dafür dürfte sicherlich die Tatsache sein, dass die Stimme der Sopranistin keineswegs in den Vordergrund gerückt ist, sondern mit den Instrumentalklängen zu einer Einheit verschmilzt und zum Teil fast aus der Ferne zu kommen scheint. (wb)
Anna Netrebko: Russian Album, Orchestra of the Mariinsky Theatre, Valery Gergiev, Deutsche Grammophon, 00289 477 6151.