20.11.2008 — Er konnte ziemlich polemisch werden, und er hielt nicht hinter dem Berg zurück mit seiner Meinung über zeitgenössische Musik, die den Boden der Tonalität verliess: «Das Publikum, das die Musik der ‚Avantgarde‘ um sich zu sammeln vermochte, besteht aus Berufsmusikern oder solchen, die es werden wollen, aus Kritikern und Leuten aus der Welt des Müssigganges, die auf neue Sensationen aus sind und sich einbilden, die neue Musik zu ‚fördern‘, indem sie diese Konzerte unterstützen. So ist in der scheinbaren Sanktionerung dieser Musik alles künstlich und folglich unecht; und ein jeder spielt eine Rolle: Die Musiker, die das Spiel anführen, spielen Genie, die Kritiker spielen Propheten, die Rundfunkleiter und die Leute von Welt spielen Schirmherrn der Künste, die Verleger Förderer der Neuen Musik (auch wenn sie nur Geschäfte damit machen) und die jungen Musiker, die sich der Bewegung angeschlossen haben, spielen sich auf als Entwurzelte, die nicht Vater und Mutter haben».
So steht’s in dem 1961 erschienen 800-Seiten-Pamphlet «die Grundlagen der Musik im menschlichen Bewusstsein» des Mathematikers, Musikschriftstellers und Dirigenten Ernest Ansermet. Das Buch ist ein genauso engagierter wie zum Scheitern verurteilter Versuch, der Zwölftonmusik Schönbergs und ihren Adepten eine defekte, dem Menschlichen widerstrebende Ästhetik nachzuweisen (es ist nichtsdestotrotz aber unterhaltend und dank zahlreicher Einzelanalysen mit erheblichem Gewinn zu lesen).
Selber verstand sich der Gründer und langjährige Leiter des Orchestre de la Suisse Romande (OSR) auch oder sogar in erster Linie als Förderer der zeitgenössischen Musik. Aber eben derjenigen, die den Boden von Tonalität und Espressivo nie verlässt. Wie sich aus dem Zitat schliessen lässt, sah er sich dabei selber als Verteidiger des «Echten» und nicht Korrumpierbaren. «Genie spielen» war definitiv nicht sein Ding, auch wenn er durchaus über ein gesundes Selbstbewusstsein verfügte.
Die zugleich etwas paternalistisch und rechthaberisch anmutende Einstellung, die in den «Grundlagen» durchschimmert, glaubt man auch in den Aufnahmen zu spüren, die nun begleitend zu Jubiläumsveranstaltungen des OSR verfügbar gemacht werden − seine Gründung im Jahr 1918 liegt 90 Jahre zurück. Es handelt sich um Mono-Livemitschnitte, die Ansermets musikalische Präferenzen herausstreichen. Da wird schnörkellos musiziert und klar konturiert, Wert gelegt auf Plastizität der musikalischen Phrase, die Sinnlichkeit des Klanges hingegen eher heruntergespielt.
Die Zurückhaltung gegenüber allzu Bedeutungsschwangerem teilte der Dirigent, der sich sein Handwerk in Deutschland perfektioniert hat − in München bei Felix Mottl und in Berlin bei Arthur Nikisch und Felix Weingartner − mit dem Komponisten Igor Strawinsky. Vom russischen Freund und Weggefährten, der immer bestritten hat, dass Musik überhaupt irgendetwas zum Ausdruck bringen kann, hat er einige Werke uraufgeführt, etwa «Histoire du soldat» «Le Chant du Rossignol», «Pulcinella», «Noces» oder das Capriccio für Klavier und Orchester. Die begleitend zu Gedenkkonzerten zum Jubiläum (am 30. November 2008 in der Genfer Victoria Hall und am 1. Dezember 2008 im Lausanner Théâtre de Beaulieu) produzierten CD bringen zwar keine Wiederbegegnungen mit Strawinsky-Einspielungen. Sie illustrieren seinen musikalischen Kosmos aber nicht minder aufschlussreich.
Zu finden ist da eine bemerkenswerte Aufnahme des fünften Klavierkonzertes Beethovens mit Rudolf Serkin am Flügel, kombiniert mit der Fünften des Bonner Meisters, eine Aufnahme von 1966. Zwei weitere CD dokumentieren die gemässigte Moderne, die Ansermet als organische Weiterentwicklung der europäischen Tonalität verstand: die Dutilleux-Sinfonie Nr.1 (aufgenommen 1956) und Martinus Sinfonie Nr.4 (Aufnahme von 1976), d’Indys Sinfonie «Cévenole» für Klavier und Orchester (mit Robert Casadesus am Klavier, 1955 aufgenommen) und die Sinfonie Nr. 3 des heute (nicht ganz zu unrecht) praktisch vergessenen Albéric Magnard (1865-1914).
Das Kernstück des Quartetts bildet aber sicherlich die Doppel-CD mit Brittens «Les Illuminations» (1953 aufgenommen) und «War Requiem» (Einspielung von 1967) sowie Alban Bergs sieben frühe Lieder (1959 aufgenommen). Zum hervorragenden Gesangsquartett im «War Requiem» gehört auch Brittens Lebensgefährte Peter Pears. Den Vokalpart in den Berg-Liedern singt die Sopranistin Chloé Owen. (wb)
Collection Ernest Ansermet vol.1: Benjamin Britten: Les Illuminations, War Requiem; Alban Berg: Sieben frühe Lieder. Ernest Ansermet (Leitung), Orchestre de la Suisse Romande, Choeurs du Collège Villamont, Suzanne Danco, Heather Harper, Chloé Owen (Sopran), Peter Pears (Tenor), Thomas Hemsley (Bariton), Cascavelle VEL 3125.
Collection Ernest Ansermet vol.2: Ludwig van Beethoven: Klavierkonzert Nr.5 «Emperor», Sinfonie Nr. 5, Ernest Ansermet (Leitung), Rudolf Serkin (Klavier), Orchestre de la Suisse Romande, Cascavelle VEL 3126.
Collection Ernest Ansermet vol.3: Henri Dutilleux: Sinfonie Nr.1; Bohuslav Martinù, Sinfonie Nr.4, Ernest Ansermet (Leitung), Orchestre de la Suisse Romande, Cascavelle VEL 3127.
Collection Ernest Ansermet vol.4: Albéric Magnard: Sinfonie Nr. 3; Vincent D’Indy: Sinfonie «Cévenole», Ernest Ansermet (Leitung), Orchestre de la Suisse Romande, Robert Casadesus (Klavier), VEL 3128.