01.05.2009 — Historisches Spekulieren ist ja völlig müssig. Wir nehmen aber trotzdem mal an (nur weil’s ins übliche Bild passt), Bach wäre schockiert gewesen, hätte er das gehört: Die Mezzosopranistin Anne Sofie von Otter, der Dirigent und Organist Lars Ulrik Mortensen und das Concerto Copenhagen füllen seine Kirchenmusik mit prallem, sinnlichem, gänzlich unpietistischem Leben. Aber vielleicht unterschätzen wir ja Bachs heimliches Verständnis für kaum verhüllte Musizierlust und Klangsinnlichkeit. Vielleicht wäre ja auch bloss die bigotte Gemeinde schockiert gewesen, an der sich der Thomaskantor immer wieder rieb; er selber hätte möglicherweise seine helle Freude gehabt, mal statt die Töne von Zippelfagottisten, quengelnden Musici und mehr kokett als korrekt flötenden Sopranistinnen eben mal andere zu hören.
Anne Sofie von Otter hat sich ihr eigenes, unkonventionelles Album an Bach-Arien zusammengestellt. Es umfasst Auszüge aus Kantaten aus der Weimarer Zeit des Barockmeisters, darüber hinaus Stücke aus der Matthäuspassion, der h-Moll-Messe und dem Magnificat. Aus den Kantaten BWV 12 und 35 haben auch zwei rein instrumentale Sinfonias in die Kollektion Eingang gefunden.
Da wird Bachs Musik in ein funkelndes, stets wechselndes und immer wieder überraschendes klangliches Licht getaucht. Umwerfend etwa, wie seidig-verführerisch die Violine das «Erbarme dich, mein Gott» aus der Matthäuspassion einleitet, oder wie Klangmixturen – etwa die Flöte/Streicher-Kopplung in «Kommt ihr angefocht’nen Sünder» aus der Kantate BWV 30 oder freche Tutti-Sforzati der Streicher in «Nichts kann mich erretten» aus der Kantate BWV 74 – diese Musik von der eher frömmlerischen Patina reinigt, die sie im konventionellen Kirchenkonzert oft anzusetzen droht.
Auch das transparente, präzise und energiegeladene Orgel-Continuo sowie das nicht minder präzise und klar artikulierte Ineinandergreifen von Solo- und Orchesterstimmen verleihen diesem urmusikalischen Dahinfliessen etwas Atemraubendes. Anne Sofie von Otters Stimme fügt sich (wie diejenigen ihrer gelegentlichen Mitsänger, der Sopranistin Karin Roman, der Tenöre Anders J. Dahlin und Tomas Medici sowie des Bassbaritons Jakob Bloch Jespersen) in dieses Kollektiv einfach als weitere Farbe ein.
In den Haltetönen scheinen von Otters Vokallinien förmlich aus dem Orchersterklang herauszuwachsen und wieder zu versinken, in den Dialogen mit den warmen Oboen-Linien ergeben sich wunderbare Zwiegespräche, die gelegentliches Überartikulieren des Textes zur lässlichen Sünde machen, und wie in choralhafter Schlichtheit «Ewigkeit» zum oh du förmlich erlebbaren «Donnerwort» wird (Kantate BWV 60), ohne dass sich opernhafte Attitüden einschlichen, das hat Sternstunden-Charakter.
Ob da alles mit historisch-kritisch rechten Dingen zugeht? Wer sich diesen Bach anhört, dem mutet die Frage von Nummer zu Nummer zunehmend irrelevant, ja absurd an, und er gewinnt an Gewissheit, dass vom Concerto Copenhagen noch einiges zu hören sein wird. Dass Anne Sofie von Otter eine herausragende, authentische und originelle Künstlerpersönlichkeit ist, bestätigt sich mit dieser Produktion einfach einmal mehr. (wb)
Anne Sofie von Otter: Bach. Anne Sofie von Otter (Mezzosopran), Concerto Copenhagen, Lars Ulrik Mortensen (Orgel und Leitung), Archiv Produktion, Deutsche Grammophon 2009. Aufgenommen im Juni 2008 in der Garnisonskirken Copenhagen. DG-Best.-Nr. 00289 477 7467