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David Garrett: Virtuoso

12.07.2008 — Es gibt CD-Produktionen, über die würde man lieber das Mäntelchen der Barmherzigkeit legen. Da ständig mehr Tonträger auf den Markt gedrückt werden, fällt uns das meistens auch leicht: Es lohnt sich in der Regel einfach nicht, missratene Aufnahmen zu besprechen, wenn die Aufmerksamkeit der Lesegemeinde schon mit guten und sehr guten bedient werden kann. Es gibt allerdings Produktionen, die stammen von Künstlern, an denen man schlicht nicht vorbeikommt. Wenn ein solcher im Guinness-Buch der Rekorde als schnellster Geiger der Welt eingetragen ist, grottenschlechte Musik als höchste Inspiration preist und dafür unter anderem umstrittenen Lifestyle-Ärzten wie dem Münchner Jetset- und Sportmediziner Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt dankt, dann muss man einfach Einspruch erheben. David Garretts CD «Virtuoso» erschlägt klassische Salontitel wie Rimsky-Korsakovs Hummelflug, Paganinis Capriccien oder Montis Csárdás mit einer lieblos anmutenden R’n’B-Keule und verpackt das ganze in die Ästhetik eines Lifestyle-Magazins für die Jeunesse Dorée − oder was sich dafür hält.

Produziert worden ist die Scherbe vom britischen Duo Kevin Bacon und Jonathan Quarmby, das sonst Künstlern wie Ziggy Marley, Pretenders und Sugababes aufnahmetechnisch auf die Beine hilft. Der samtene Geigenklang Garretts und die Ohrwürmer der Violinliteratur dienen da bloss noch der Parfümierung akustischer Tapeten für urbane In-Lokale. Der Dank an den Mediziner ist übrigens einer von vielen. Eine ganze Seite des Booklet-Faltblattes ist in bester Soul- und R’n’B-Manier mit der Aufzählung all der Personen gefüllt, welche die «bloody great time in the studio» möglich gemacht haben. Auch Ida Händel, Itzhak Perlman und «all my teachers at the Juilliard School» werden bedient (die werden sich vermutlich auch bedanken). Einzig Gott, sonst obligate erste Reverenz von Soul- und R’n’B-Grössen in ihren Dankeslitaneien, hat bei der Produktion von «Virtuoso» offenbar nichts Verdankenswertes beigesteuert.

Auf der CD wirkt neben einer Reihe von Studiomusikern und dem Flamenco-Gitarristen Paco Peña auch ein ausgewachsenes Orchester mit. Es handelt sich um das Ensemble Il Novecento des niederländischen Dirigenten Robert Groslot, ein in ständig wechselnder Besetzung aufspielender Klangkörper, der vornehmlich an Grossanlässen − regelmässig etwa an der populären Night of the Proms − Künstler wie Björk, Charles Aznavour, Eros Ramazzotti, Il Divo, Wet Wet Wet, aber auch den Schweizer Alpenrocker Polo Hofer und unzählige andere Showgrössen sekundiert. Die Verbindungen der Produktionsfirmen sind dementsprechend: Neben Decca und Warner Music figuriert darunter die deutsche Deag, seit Juli 2000 Muttergesellschaft der Schweizer Good News, der führenden Anbieterin von Hallenstadion- und Freiluftmassenanlässen des Landes mit Künstlern wie André Rieu, Kastelruther Spatzen, James Last, Chippendales und Madonna im Roster.

Das Standardargument für solche Produktionen ist in der Regel die Hoffnung, der klassischen Musik neue, junge und urbane Hörerschichten zu erschliessen. Dass dies so gelingen kann, darf bezweifelt werden. Derartige Lifestyle-CD wirken vielmehr, als würden alle eigentlichen Werte der europäischen Kunstmusik − Wachheit, Bereitschaft zum aktiven und kritischen Hinhören, intellektuelle Herausforderung und Offenheit − als unzumutbar empfunden und möglichst über- oder runtergespielt, und als glaubte man, dies sei der einzige Weg, um ein narzisstisches Party-Publikum auch für die Werte der Kunstmusik zu gewinnen. Was für ein Irrtum. (wb)

David Garrett: Virtuoso, Werke von Morricone, Bizet, Garrett, Monti, Paganini und anderen, Decca Deag Music 2007

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