15.05.2009 — Es ist zwar eher einem Zufall zu verdanken, und dennoch schafft es in der jüngeren Geschichte der Schweizer Volksmusik wichtige Bezüge: Ausgerechnet auf dem Aargauer Schloss Lenzburg wird dieses Jahr ein Festival aus der Taufe gehoben, das sich der Querverbindungen zwischen der klassischen Musik und den vielfältigen Folk-Traditionen Europas annimmt. Dieselbe Burg war 1972 mit einem legendären Festival Ausgangspunkt der hiesigen Folk-Bewegung, die Schweizer Volksmusiker und internationale Grössen der erdig-authentischen Populärkultur zusammenbrachte und für die Erforschung der eigenen Traditionen wichtige Impulse lieferte. Das «Internationale Folk-Festival» fand auf der Lenzburg 1980 zum letzten Mal statt.
Eine ähnliche Philosophie, die Folk, ökologisches Denken und ein neues kritisches Bewusstsein für die eigenen Traditionen zum Lebensgefühl der Alternativkultur zusammenfügte, verfolgte zu Beginn auch das Gurten-Festival auf dem Berner Hausberg. Letzteres hat im Gegensatz zum Lenzburger Anlass zwar bis heute überlebt, sein Gesicht hat es allerdings mehrmals radikal geändert; mittlerweile ist es zum Teil einer globalisierten Mainstream-Unterhaltungsindustrie geworden.
Der Cellist und Komponist Fabian Müller, heute einer der profiliertesten Schweizer Exponenten des Brückenschlags zwischen Klassik und Folk, verwaltet in gewisser Hinsicht das geistige Erbe dieser Generation des Aufbruchs – zumindest in musikalischer Hinsicht. Die Erforschung und Revitalisierung der authentischen Schweizer Volksmusik, wie sie sich vor ihrer nationalistischen Ideologisierung im Umfeld des Zweiten Weltkrieges präsentierte, hat sich heute aus der engen Verbindung mit der Öko-Bewegung emanzipiert; sie ist im Musikleben zu einer Kraft geworden, die sich aus einer autonomen künstlerischen Dynamik speist und im Spannungsfeld von Traditionalismus, Moderne, Laienmusizieren und Hochkultur eine erstaunlich eigenständige Entwicklungslinie verfolgt.
Müller hat sich zusammen mit Streicherkollegen in den letzten Jahren der Sammlung Hanny Christen angenommen, einer einzigartigen historischen Dokumentation des musikalischen Volksgutes der Schweiz, die 2002 als Notensammlung verfügbar gemacht worden ist. Es handelt sich um rund 12’000 Melodien, die nicht zuletzt die früher überaus reiche Praxis des Fiedelns im einheimischen Brauchtum wieder zum Leben erwecken. Dazu hat Hanni Christen auch Feldaufnahmen realisiert, von denen auf der vorliegenden CD aus der Reihe Neue Volksmusik von Musiques Suisses relativ kurze Ausschnitte Zeugnis ablegen. Zu hören sind der Geiger Hans Kreuzer aus Oberwald im Wallis in zwei Aufnahmen aus dem Jahr 1960 und der Fielder Tumasch Dolf aus Zillis im Graubünden, der von Hanni Christen 1958 auf Band verewigt worden ist.
Den grössten Teil der CD machen aber Einspielungen von Tänzen und Muotathaler «Jüüzli» in einer Duoversion mit Fabian Müller am Cello und Andreas Gabriel an der Geige aus – unter gelegentlichem Beizug des Kontrabassisten Andy Schaub und einer dreisaitigen «Nachschlag»-Bratsche. Die Arrangements wahren den kernigen Charme der Melodien und die raue Tonalität der ländlichen Tanzweisen, die immer wieder mit unerwarteten harmonischen Wendungen und melodischem Vorwitz überraschen. Müller und Gabriel orientieren sich dabei auf kundige Weise an den traditionellen Spielweisen, die auf den Tonaufnahmen Christens dokumentiert sind. Mit zum Charme trägt dabei der gelegentliche Einsatz von Darmsaiten und einer tieferen Stimmung der Instrumente bei.
Die Lenzburgiade bietet an Pfingsten eine einmalige Gelegenheit, die hier dokumentierten Fiedlertraditionen der Schweizer Volksmusik in ihren reichhaltigen Bezügen zur europäischen Streichertradition zu erleben; sie erlaubt, in Konzerten, Workshops und zahlreichen Aktivitäten unter dem freiem Schloss- und Städtchenhimmel zu erleben, dass die Aufbruchstimmung der Folkbewegung der Flower-Power-Jahre heute nach wie vor reiche Früchte trägt. (wb)
Duo Andreas Gabriel & Fabian Müller und die «Helvetic Fiddlers», Historische Schweizer Volksmusik aus der Sammlung Hanni Christen und andern Quellen, Musiques Suisses, MGB-NV 9, Bezugsnachweis: www.musiques-suisses.ch