Drücke „Enter”, um zum Inhalt zu springen.

Frühwerke Piazzollas erstmals eingespielt

01.06.2007 — Der argentinische Bandoneon-Virtuose und Komponist Astor Piazzolla ist als Schöpfer des Tango Nuevo zu Weltruhm gelangt. Ironischerweise dürfte es gerade diesem Ruhm zuzuschreiben sein, dass seine orchestralen Werke mit Wurzeln im nationalen Volksgut und der Neoklassik ungleich weniger Resonanz gefunden haben. Der Württembergischen Philharmonie Reutlingen und dem argentinischen Dirigenten Gabriel Castagna ist es deshalb vorbehalten geblieben, erst eineinhalb Dezennien nach Piazzollas Tod Schlüsselwerke seines musikalischen Werdeganges zum ersten Mal auf Tonträger einzuspielen.

Hinderlich an der Verbreitung der sinfonischen Arbeiten Piazzollas ist wohl eben die Tatsache, dass dem Tango – im Gegensatz zu den meisten populären Musikstilen – Blechbläser sowie Schlagzeug und Perkussion fremd sind, aber es genau diese Orchestergruppen sind, die im 20. Jahrhundert einen ungeahnten Aufschwung erfahren haben.

Wohl hat Piazzolla immer wieder mit Schlagwerk und Rohrblattinstrumenten experimentiert, so richtig gelungen ist ihm die Fusion mit dem Tango aber nie; die seiner Musik wohl angemessensten Besetzungen blieben letztlich kammermusikalische Formationen aus Streichern, Klavier, Gitarre und selbstverständlich Bandoneon. Perkussive Effekte wie das Klopfen auf Resonanzkörper und Instrumentenhälse oder spezielle Techniken der Streicherbögen blieben dabei zwar wichtiges, aber nicht strukturtragendes, sondern kolorierendes Beiwerk.

Dass Piazzolla aber selbst vor seiner Lehrzeit bei der französischen Lehrerin Nadja Boulanger mit Perkussion und Bläsern sehr wohl umzugehen wusste, beweist die Sinfonia Buenos Aires, mit der er 1951 einen wichtigen Wettbewerb gewann und die unter der Stabführung keines Geringeren als Igor Markewitch uraufgeführt wurde. Das Manuskript der Sinfonia, von der erst eine Fassung mit zwei Bandoneons aufgenommen worden ist (vom Orquesta de Radio del Estado unter Bruno Bandini) ist Castagna von Piazzollas Sohn Daniel anvertraut worden.

Das impulsive und sehr expressive dreisätzige Werk hantiert geschickt mit viel Blech, viel Perkussion und vielen Synkopen. Im Melodischen neigt es dafür streckenweise etwas zum Trivialen. Den Umgang des Komponisten mit reinen Bläsersätzen illustriert der zweite Satz, der sich wie eine Fortsetzung des Bandoneonspiels mit den Mitteln der Blasmusik anfühlt.

Texturell ähnlich behauen ist das von José Carli stimmig orchestrierte dreieinhalbminütige «Mar del Plata 70», das auf der CD der Reutlinger ebenfalls als Ersteinspielung vorliegt. Die Grenzen des Einsatzes neoklassizistischer Orchesterfarben zeigt sich hingegen im Arrangement der «Cuatro Estaciones Porteñas», die in der letzten, schlicht und geschlossen anmutenden Quintettversion Piazzollas zur vollen Blüte gelangt sind. Die aus dem Jahr 1989 stammende Orchesterfassung von Carlos Franzetti ist ebenfalls noch nie auf Tonträger eingespielt worden. Sie ist zwar spannend anzuhören, aber doch etwas überladen und in den aus der Kammermusikversion liebgewonnenen satztechnischen Details naturgemäss eingeebnet.

Mit auf der Silberscheibe findet sich schliesslich eine Einspielung des Konzertes für Bandoneon, Streichorchester und Perkussion, dem der versierte Solist Juan José Mosalini in allen Teilen bestens gerecht wird.

Alles in allem haben das wendige Orchester und der Dirigent Castagna, der für Authentizität und vitalen Zugriff sorgt, mit dieser CD ein ungewöhnliches, wichtiges und längst fälliges Dokument geschaffen, an dem kein Piazzolla-Liebhaber vorbeigehen dürfte – stehe er nun als Tango-Aficionado der harten Sorte diesen Orchesterfarben eher skeptisch gegenüber oder nehme er als Liebhaber der lateinamerikanischen Neoklassik des 20.Jahrhunderts die willkommene Gelegenheit wahr, den eigenen Horizont substantiell zu erweitern. (wb)

Piazzolla Vol. 2 (Sinfonia Buenos Aires, Mar del Plata 70, Cuatro Estaciones Porteñas, Concerto for Bandoneon, String Orchestra and Percussion), Juan José Mosalini (Bandoneon), Gabriel Castagna (Leitung), Württembergische Philharmonie Reutlingen, Chandos, Chan 10419.

Schreibe einen Kommentar